Augsburg
Hirblingen, Wertinger Straße 6
Erbgesundheitsgericht Augsburg
Erbgesundheitsobergericht München
Städtisches Krankenhaus Augsburg
Johann Stegmüller ist am 23. Oktober 1910 in Augsburg geboren. Seine Eltern sind der Gablinger Zimmermann Anton Stegmüller1 und Josefa geb. Schweighofer, die aus Hirblingen stammt. Das Paar heiratet am 22. April 18992 in Augsburg-Oberhausen. Johann hat 6 ältere Geschwister, Anna3 (geb. 1898), Josefa (geb. 1900)4 , Philomena5 (geb. 1905), Anton6 (geb. 1906), Johann (geb. 1908), der 10 Tage nach seiner Geburt verstirbt7 , sowie Johanna8 (geb. 1909). Johann hat noch zwei jüngere Geschwister, Adolf9 (geb. 1912, verst. 1913) und Rosina10 , die 1914 geboren ist.11
Die Familie zieht 1907 von Kriegshaber nach Augsburg und wohnt dort 11 Jahre lang. Anton ist bei der Firma F.B. Silbermann12 als Zimmermann beschäftigt.
Unmittelbar nach dem 1. Weltkrieg meldet sich die Familie im Januar 1919 nach Hirblingen ab.13 Anton verliert das Augsburger Bürgerrecht infolge seines Wegzugs nach Hirblingen.14 Die Familie wohnt in Hirblingen im Haus Nr. 1615 , dem Haus der Eltern von Josefa Schweighofer.
Seit seinem 6. Lebensjahr wird Johann von epileptischen Anfällen geplagt. Das Gesundheitsamt Augsburg hat zwar eine Karteikarte zu Johann Stegmüller angelegt, allerdings sind keine Aktenvorgänge überliefert. Die Epilepsie von Johann wird folglich erst während der Zeit des Nationalsozialismus 1934 aktenkundig.16
Anfangs hat Johann alle 14 Tage Anfälle, jeweils zehn Mal hintereinander, später im Abstand von 8–10 Tagen jeweils vier bis fünf Mal hintereinander17 . Wegen der Anfälle kann Johann keinen Beruf ausüben, und er bleibt im elterlichen Haus, zuerst in Augsburg, ab 1919 in Hirblingen. Zwischen den Anfällen hilft er im (groß)väterlichen Betrieb so gut es geht mit.
Ob er eine schulische Ausbildung zumindest begonnen hat, wissen wir nicht. Johann selbst führt die Anfälle auf einen Unfall zurück, über den er aber keine näheren Angaben machen kann. Schädel- oder Hirnverletzungen lassen sich bei ihm nicht nachweisen.18
Für die nationalsozialistische Ideologie der Züchtung einer Herrenrasse für den später zu führenden rassistisch-sozialdarwinistischen Lebensraumkrieg sind Menschen mit körperlichen oder geistigen Beeinträchtigungen von Anfang an ein Dorn im Auge. Mit dem am 14. Juli 1933 erlassenen „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ wurde die Idee der eugenischen19 Säuberung der Bevölkerung von vermeintlich minderwertigem Erbgut in praktische Politik umgesetzt. Das Gesetz schrieb fest:
„Wer erbkrank ist, kann durch chirurgischen Eingriff unfruchtbar gemacht (sterilisiert) werden, wenn nach den Erfahrungen der ärztlichen Wissenschaft mit großer Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist, dass seine Nachkommen an schweren körperlichen oder geistigen Erbschäden leiden werden … Erbkrank im Sinne dieses Gesetzes ist, wer an einer der folgenden Krankheiten leidet:
Nach den Bestimmungen des Gesetzes wurden bis zum Ende des III. Reiches etwa 400 000 Menschen zwangssterilisiert: Die Opfer waren neben Epileptikern, Geisteskranken und körperlich Behinderten eben auch Fürsorgeempfänger, Langzeitarbeitslose, Alkoholiker und sogenannte „Asoziale“.
Diese sog. „Ballastexistenzen“, wie sie von Eugenik-Befürwortern und Nazis insbesondere genannt wurden, sollten sich nicht fortpflanzen dürfen. Ärzte, Sozialarbeiter, Lehrer und Hebammen hatten im Falle angeblich erblich bedingter Auffälligkeiten und Krankheitsbilder die gesetzliche Pflicht zur Anzeige beim Gesundheitsamt. Hier kam es zu Denunziationen in großem Umfang.
Nach Erstellung eines Gutachtens beantragte das Gesundheitsamt beim Erbgesundheitsgericht die Sterilisation. Erbgesundheitsgerichte und Obergerichte wahrten den Schein der Rechtsstaatlichkeit, aber in sämtlichen Fällen spielte die Erblichkeit von Krankheiten nur eine untergeordnete Rolle. Ab 1935 benötigten Heiratswillige ein „Ehetauglichkeitszeugnis“ des Gesundheitsamtes.
In der Praxis wurden auf der Grundlage des Gesetzes in großer Zahl Menschen zwangssterilisiert, die körperlich vollkommen gesund waren. Das Gesetz geriet weitgehend zu einem Instrument der Verfolgung von „rassisch Entarteten“ bzw. „Gemeinschaftsfremden“, pauschal also von „Asozialen“ nach dem Verständnis der rassistisch geprägten Volksgemeinschaftsideologie. Dabei half der Umstand, dass Diagnosen wie „Geistesschwäche“, „Schizophrenie“ oder „schwerer Alkoholismus“ erhebliche Interpretationsspielräume zuließen.
Die Rassisten erfanden weitere angeblich erbliche Merkmale, die bewusst auf die Erfassung gesellschaftlicher Außenseiter gerichtet waren, nämlich „moralischer Schwachsinn“ bzw. „sozialer Schwachsinn“. Betroffen waren unter anderem Mitglieder von Großfamilien der Unterschichten, ledige Mütter, lernbehinderte Kinder (Sonderschülerinnen und Sonderschüler, damals „Hilfsschüler“ genannt), weiter Bettler, Wohnungslose, Fürsorgezöglinge und Vorbestrafte. Sie sind die Hauptzielgruppe der vorgenommenen Zwangssterilisationen.
Den zuletzt Genannten drohte darüber hinaus als „Asozialen“ die Einweisung in ein KZ. An Sinti und Roma wurden ab 1934 Zwangssterilisationen praktiziert, wobei sie unter die Kategorie „Schwachsinnige“ eingeordnet wurden. Sie waren für die Rassenforscher Menschen mit fehlender geistiger und sozialer Entwicklung. An ihnen erprobte man Methoden zur Massensterilisation.
Etwa tausend Menschen, die in die Mühlen des Verfahrens einer Zwangssterilisation gerieten, haben sich selbst getötet.
Der Bezirksarzt zeigt Johanns epileptische Beeinträchtigung beim Gesundheitsamt an, das den Fall an das Erbgesundheitsgericht Augsburg zur Entscheidung weiterleitet. Johann ist 25 Jahre alt.
Unter Berufung auf Art. 1 Abs. 2 Ziffer 4 des Erbgesundheitsgesetzes kommt das Erbgesundheitsgericht Augsburg unter Vorsitz von Amtsgerichtsrat Anhäußer, assistiert von Landgerichtsarzt Obermedizinalrat Dr. Steidle und dem Kinderarzt Dr. Wilhelm Mayr, am 26. Oktober 1934 zum einstimmigen Beschluss, Johann Stegmüller unfruchtbar zu machen. Es sei mit „großer Wahrscheinlichkeit zu erwarten, dass etwaige Nachkommen des Stegmüller an schweren körperlichen oder geistigen Erbschäden leiden werden.“ Die Krankheit sei „durch einen für das Deutsche Reich approbierten Arzt einwandfrei festgestellt“20 .
Über das Wesen und die Folgen der Unfruchtbarmachung sei Stegmüller aufgeklärt worden. Verwunderlich ist, dass das Gericht sich nicht einmal annähernd die Mühe macht, die Epilepsie von Johann als Erbkrankheit nachzuweisen. Heute weiß man, dass die Forschung zum damaligen Zeitpunkt die Frage nach der tatsächlichen Erblichkeit definitiv nicht beantworten konnte, stand doch eine erbliche Diagnostik damals noch nicht zur Verfügung.21
Folgerichtig gibt sich die Familie mit dem Urteil nicht zufrieden und legt durch Rechtsanwalt Dr. Frey II am 1.12.1934 Beschwerde gegen das Urteil ein.
Daher wird der Fall Johann Stegmüller an das Erbgesundheitsobergericht in München verwiesen. Das Gericht tagt am 29. Januar 1935 unter Vorsitz des Oberlandesgerichtsrat Gros, dem Obermedizinalrat Univ. Prof. Dr. Merkel und Univ. Prof. Dr. Ernst Rüdin22 in nichtöffentlicher Sitzung.
Dort wird die Beschwerde der Familie Stegmüller als unbegründet zurückgewiesen. Zur Begründung führt das Gericht an, dass nach den Beobachtungen des Amtsarztes Anfälle seit dem 6. Lebensjahr aufgetreten seien, Zungenbisse und deren Narben festgestellt worden seien. Amtsarzt und Bezirksfürsorgerin hätten Johann laufend beobachtet und seien zur Auffassung gelangt, dass es sich um epileptische Anfälle handle. Der Rechtsanwalt der Familie Stegmüller, Dr. Frey argumentiert, dass Johann 1919 eine Dachplatte ins Genick gefallen sei. Nachdem die Anfälle aber bereits seit 1916 aufgetreten seien, so das Erbgesundheitsobergericht München, käme der Unfall als Ursache für die epileptischen Anfälle nicht in Betracht.
„Das Erbgesundheitsobergericht musste bei diesem Sachverhalt ebenfalls zu der Überzeugung gelangen, dass die Feststellung im angefochtenen Beschlusse, die auf erbliche Fallsucht lautet, zutreffend ist“23 .
Das Erbgesundheitsobergericht führt in der Begründung aus:
„Johann Stegmüller steht im fortpflanzungsfähigen Alter, es ist daher die Gefahr der Entstehung eines Nachwuchses gegeben. Da ferner nach den Erfahrungen der ärztlichen Wissenschaft mit großer Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist, dass etwaige Nachkommen des Johann Stegmüller an schweren geistigen Erbschäden leiden werden, musste dem angefochtenen Beschluss beigetreten werden. Die eingelegte Beschwerde war daher, wie geschehen, als unbegründet zurückzuweisen“24 .
Auffällig ist, dass das Erbgesundheitsobergericht sich nicht im Ansatz darum bemühte, der Beschwerde des Rechtsanwaltes und seines Klienten Rechnung zu tragen. Im Gegenteil, das Erbgesundheitsobergericht führt keine erneute Anhörung des Patienten durch und folgt bis in den Wortlaut hinein der Begründung des Erbgesundheitsgerichtes Augsburg.
Die Entscheidung des Gerichts hat massiv in die Lebensperspektive Johann Stegmüllers eingegriffen. Am 3. Juni 1935 wird das Urteil rechtskräftig und Johann Stegmüller sowie dem zuständigen Bezirksarzt Augsburg-Land zugesandt. Johann wird im Städtischen Krankenhaus in Augsburg am 6. Juni 1935 zwangssterilisiert. Wenige Tage später wird er als „geheilt“ entlassen. Welche Ironie!
Wir wissen nicht, wie Johann und seine Familie mit seiner Stigmatisierung und Erniedrigung umgegangen ist. Johann Stegmüller verstirbt am 28. August 1951 in Hirblingen. Seine Mutter Josefa geb. Schweighofer hat sich lebenslang um ihn gekümmert. Sie verstirbt 1952 und ist ebenfalls in Hirblingen beigesetzt. Zu diesem Zeitpunkt ist der Vater bereits verstorben. Seine Schwester Rosina, mittlerweile als Rosa Hitzler in Augsburg-Oberhausen verheiratet, zeigt den Tod bei der Gemeinde Gersthofen an.25
Ein Familiengrab der Stegmüller ist in Hirblingen nicht mehr vorhanden.
In einem alten Grabbuch des Hirblinger Friedhofs ist Josefa Stegmiller26 , wohnhaft Augsburger Str. 627 , als Besitzerin des Familiengrabs Nr. 81 verzeichnet. Es handelt sich um Johanns ältere Schwester, die am 29.5.1900 geboren ist. 1977 war Josefa Stegmiller, inzwischen verheiratete Schur, für weitere 10 Jahre Inhaberin des Grabes. Zu diesem Zeitpunkt wohnte sie in Augsburg-Oberhausen in der Zollernstr. 34.28
© Biografie erstellt von Dr. Bernhard Lehmann Gegen Vergessen - Für Demokratie RAG Augsburg-Schwaben bernhard.lehmann@gmx.de
Staatsarchiv Augsburg (StAA)
UR 296/34 Stegmüller Johann, Sterilisationsakte
Stadtarchiv Augsburg (StadtAA)
Meldebogen (MB):
Anton Stegmüller
Stadtarchiv Gersthofen (StadtAGerst)
Mitteilung Stadtarchivar Lukas Kleinle vom 2.9.2020
Todesurkunde Johann Stegmüller
Initiativkreis Stolpersteine für Augsburg und Umgebung
(https://stolpersteine-augsburg.de/)
– Foto: Stolperstein
https://biapsy.de/index.php/de/9-biographien-a-z/131-ruedin-ernst
https://www.wissner.com/stadtlexikon-augsburg/artikel/stadtlexikon/silbermann/5462
Stefanie Westermann, Ein Mensch, der keine Würde mehr hat, bedeutet auf dieser Welt nichts mehr. Zwangssterilisierte Menschen in der Bundesrepublik Deutschland, in: Margret Hamm, Ausgegrenzt! Warum?. Zwangssterilisierte und Geschädigte der NS-“Euthanasie“ in der Bundesrepublik Deutschland, Berlin 2017, S. 24-40