Augsburg, Donauwörther Straße 155
Ursberg, St. Josefskongregation
Heil-und Pflegeanstalt Kaufbeuren-Irsee
Tötungsanstalt Hartheim bei Linz
„Aktion T4“
Audiobiografie gelesen von Inka Janikowski, Rostock
Werner ist am 16. Juni 1927 in Augsburg geboren. Er ist das uneheliche Kind des Schreibers Fritz Werner1 und der aus Augsburg-Oberhausen stammenden Elisa Mathilde Fischer. Diese heiratet am 20. Juli 1928 den Maler Josef Kratzer2 . Die junge Familie zieht in die Donauwörther Straße 155.3 Werners Halbbruder Ignaz wird am 17. November 1928 geboren, seine Halbschwester Elisabeth am 27. Januar 1931.4
Wegen einer sehr starken körperlichen und geistigen Beeinträchtigung wird Werner im Alter von 3 Jahren und 3 Monaten am 15. September 1930 in die St. Josefskongregation nach Ursberg aufgenommen. Anfangs übernimmt der Landesfürsorgeverband Schwaben die Kosten, ab Oktober 1936 die Armenfürsorge.
Am 19. November 1940 wird Werner Fischer von Ursberg in die Heil- und Pflegeanstalt in Kaufbeuren überwiesen und erhält dort die Patientennummer 11750.
Seit Beginn der „Euthanasie-Aktion“ im Herbst 1939, veranlasst durch den Leiter der Reichskanzlei Philipp Bouhler und organisatorisch durchgeführt durch die Zentraldienststelle in der Tiergartenstraße 45 , erfolgt die massenhafte Verlegung von Patienten aus karitativen Anstalten wie Ursberg, Lautrach und Holzhausen nach Kaufbeuren.
Diese Patienten werden vorwiegend zur Tötung nach Kaufbeuren-Irsee verbracht. Von dort erfolgt ab August 1940 die „Verlegung“ der ersten Patienten in die Vernichtungsanstalten Grafeneck und Hartheim und dort im Rahmen der sogenannten T4 Aktionen deren Ermordung.6
Dieser „Selektion lebensunwürdigen Lebens“ im Rahmen der Aktion T4 gehen umfangreiche Planungen voraus. Am 9.10.1939 werden vom Leiter der Abteilung IV des Reichsministerium des Inneren, Leonardo Conti, die in Frage kommenden Heil- und Pflegeanstalten zur Benennung bestimmter Patienten mittels Meldebögen aufgefordert.7 In einem beigefügten Merkblatt ist angegeben, welche Patienten nach Berlin gemeldet werden müssen:
Diese Meldebögen werden über den zuständigen Referenten Herbert Linden im RMdI an die T4 Zentrale weitergeleitet. Drei „Gutachter“ entscheiden aufgrund der Meldebögen, also nicht aufgrund eigener Untersuchungen, über Tod oder Weiterleben der Patienten.9
Wir müssen davon ausgehen, dass dem Kaufbeurer Anstaltsleiter Dr. Valentin Faltlhauser seit dem Frühjahr 1940 von Berlin Listen mit den Namen der Patienten zugesandt werden, welche die Gutachter der Aktion T410 in Berlin für „lebensunwürdig“ halten und welche dementsprechend in eine Reichsanstalt überwiesen werden sollen.11 . Dr. Valentin Faltlhauser ist seit September 1940 selbst Gutachter. Vielleicht hat er seit dieser Zeit selbst Listen angefertigt, weil er ja die Patienten vor Ort besser kennt als die Gutachter in Berlin, die vom Schreibtisch aus ihre Todesurteile fällen. Zumindest wird er ab Juni 1940 auf den Listen, die aus Berlin kommen, Veränderungen bzw. Ergänzungen vorgenommen haben.12 Als Gutachter der Aktion T4 ist Faltlhauser auch „Mitglied einer Kommission, die in unzuverlässigen Anstalten die zur Tötung bestimmten Patienten vor Ort auswählte“.13
Der Patientenbogen Werner Fischers in Kaufbeuren hält am 20. Dezember 1940 fest, dass er sich wegen seiner geistigen Beeinträchtigung sprachlich nicht artikulieren könne.
Das Stadtjugendamt Augsburg richtet am 13. Februar eine Anfrage an die Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren. Es geht um die Vormundschaft und Kostenübernahme für den Patienten Werner Fischer. Der stellvertretende Anstaltsleiter Dr. Gärtner antwortet folgendermaßen:
An das Stadtjugendamt Augsburg
Amtsvormundschaft, 4.3.41
Betr. F.R.434/27 Vormundschaft über Werner Fischer, geb. 16.6.27
Zur Anfrage vom 13.2.41 teile ich mit, dass in dem Befinden des Werner Fischer seit seiner Überstellung von Ursberg in die hiesige Anstalt am 19.11.40 bis heute keinerlei Veränderung zu verzeichnen ist. Es handelt sich um eine ... Form von Schwachsinn ohne Sprachäußerung. Der Kranke muss größtenteils gepflegt werden. Gegenüber dem Pflegepersonal zeigt er sich kindlich anhänglich. Nicht selten zeigt er ziellose, triebhafte Unruhe ... . i.A. gez. Gärtner, Oberarzt..14
Die weiteren Einträge im Patientenbogen zu Werner Fischer sind spärlich. Die beiden letzten Einträge lauten:
28.3.41 Unzugänglich, lebhaft, lallt, ... pflegebedürftig, in ... Unruhe. Gez. Gärtner.15
4.6.1941 „verlegt“.
Werner Fischer bleibt nur knappe 7 Monate in Kaufbeuren. Am 4. Juni 1941 wird er mit 69 weiteren Patienten aus Kaufbeuren mit den grauen Bussen in die Tötungsanstalt Hartheim bei Linz transportiert und dort aller Wahrscheinlichkeit am gleichen Tag mit Gas ermordet.
Hierunter sind 24 Personen, die erst am 19. November 1940 von Ursberg nach Kaufbeuren verlegt worden sind.
11 Personen sind aus Augsburg und näherer Umgebung.16
Die Behörden in Augsburg erhalten vom Standesamt Hartheim die Nachricht, dass Werner Fischer am 17. Juni 1941 in Hartheim bei Linz verstorben sei. Doch selbst dieses Todesdatum haben die Nazis gefälscht, um die Massenmorde zu vertuschen. Bereits am Tag darauf, am 5. Juli 1941 erfolgt die „Verlegung“ von 71 Frauen aus Kaufbeuren nach Hartheim und deren Ermordung.17
Biografie erstellt von Dr. Bernhard Lehmann, StD, Gegen Vergessen - Für Demokratie RAG Augsburg-Schwaben; 86368 Gersthofen, Haydnstr. 53 bernhard.lehmann@gmx.de
2020, ergänzt 2024
Bundesarchiv Berlin (BA Berlin)
– R 179-22004, Patientenakte von Werner Fischer
Historisches Archiv des Bezirkskrankenhaus Kaufbeuren
(Hist. Archiv BKH Kaufbeuren)
– Historisches Archiv BKH Kaufbeuren, Standbücher der Zu- und Abgänge Männer, Frauen 1941
Stadtarchiv Augsburg (StadtAA)
Meldebogen (MB):
– Werner Fischer
– Ignaz Kratzer
Initiativkreis Stolpersteine für Augsburg und Umgebung
(https://stolpersteine-augsburg.de/)
– Foto: Stolperstein
Götz Aly (Hg.), Aktion T4: 1939–1945. Die „Euthanasie“-Zentrale in der Tiergartenstraße 4, 2. Auflage, Berlin 1989.
Michael Burleigh (Hg.), Tod und Erlösung. Euthanasie in Deutschland 1900–1945, Zürich 2002.
Michael von Cranach/Petra Schweizer-Martinschek, Die NS-„Euthanasie“ in der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren-Irsee, in: Stefan Dieter (Hg.), Kaufbeuren unterm Hakenkreuz, Kaufbeurer Schriftenreihe Band 14, Thalhofen 2015, S. 270-287.
Ernst Klee (Hg.), Dokumente zur „Euthanasie“, Frankfurt/Main 1985.
Ulrich Pötzl, Sozialpsychologie, Erbbiologie und Lebensvernichtung. Valentin Faltlhauser, Direktor der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren-Irsee in der Zeit des Nationalsozialismus, München 1995.
Thomas Stöckle, Grafeneck 1940, 3. Auflage, Tübingen 2012.