Augsburg, Zimmermannstraße 20
Taubstummenanstalt Dillingen
Pflegeanstalt Karlshof bei Lauterhofen
Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren
Tötungsanstalt Hartheim bei Linz
„Aktion T4“
Karoline Balbina Müller ist die Tochter des Augsburger städtischen Tagelöhners und Fuhrknechts Max Ferdinand Müller und der aus Obergessertshausen stammenden Amalie, geb. Geißelmann.1 Das Paar hatte am 15. April 1893 in Augsburg geheiratet.2
Karoline wird am 7. März 1907 in Augsburg geboren und ist wie ihre Zwillingsschwester Amalie gehörlos, möglicherweise auch geistig beeinträchtigt.3 Karoline hat vier ältere Geschwister, Pauline (geb. 1892, verst. 1893), Max (geb. 1898), Friedrich (geb. 1900) und Wilhelm Josef (geb. 1902) sowie einen jüngeren Bruder Otto Ludwig (geb. 1908)4
Die Familie wohnt zuerst in der Äußeren Uferstraße 23, dann in der Schützenstraße 20, in der Äußeren Uferstraße 1, in der Reisacherstraße 29, in der Färberstraße 20, der Zimmermannstraße 20, der Donauwörther Straße 49, dann in H 100 (= Turmgäßchen 7) und schließlich ab 1933 in G 168 ½ (= Buchmayergäßchen 6/I).5
Im Januar 19136 werden die 6-jährige Karoline und ihre Zwillingsschwester Amalie in der Taubstummenanstalt Dillingen untergebracht. Alles deutet darauf hin, dass der Vater zu diesem Zeitpunkt keinem Broterwerb mehr nachkommen kann. Er verstirbt im Mai 1913 im Alter von 46 Jahren.7 Die Kinder erhalten fortan eine jährliche Waisenrente von jeweils 30 Mark und 60 Pfennigen.8
Karoline erlernt in Dillingen das Lesen und Schreiben9 , einen Beruf kann sie aber nicht ausüben. Nach 14 Jahren kommt Karoline als 20-jährige Frau im Juni 1927 in die Pflegeanstalt Karlshof bei Lauterhofen. Wir wissen weder, wie es ihr dort ergangen ist, noch was aus ihrer Zwillingsschwester geworden ist.
Auf Veranlassung der zentralen Dienststelle in Berlin10 werden seit Kriegsbeginn Patienten aus Ursberg, Lautrach, Holzhausen und anderen Anstalten nach Kaufbeuren und Irsee mit der Intention ihrer späteren Tötung verlegt.
In diesem Kontext wird Karoline am 6.2.1941 in die Heil- und Pflegeanstalt nach Kaufbeuren überwiesen. Sie leidet laut Patientenbogen an katatonischer Schizophrenie.11 Ob diese Diagnose zutrifft, darf zumindest angezweifelt werden. Wegen ihrer Gehörlosigkeit ist die Kommunikation mit ihr schwierig.
Der im Bundesarchiv in Berlin erhaltene Patientenbogen aus Kaufbeuren vermag nur wenig Konkretes über Karoline Balbina zu berichten. Karoline sei stuporös und erhalte 15 Einheiten Insulinspritzen.12 Sie lasse sich vollständig anziehen, versorgen, frisieren, füttern und müsse auf die Toilette geführt werden. Sie sei teilnahmslos und könne nicht arbeiten.
Wegen ihrer „Arbeitsunfähigkeit“ kann sie das wichtigste Kriterium für ein Weiterleben im Sinne des Nationalsozialismus und der wahnhaften sozialdarwinistischen Prämissen nicht erfüllen und ist dem Tode geweiht.
Weil die Mutter krank ist, erkundigt sich ihr Bruder Max nach ihr und fragt an, ob ein Briefwechsel mit ihr möglich sei. Die Mutter warte auf Nachricht von der Tochter.13 Wir können demnach davon ausgehen, dass Karoline Balbina bis zu einem bestimmten Zeitpunkt ihrer Krankheit intellektuell imstande war, eine Kommunikation in Wort und Schrift aufrecht zu erhalten. Ob dies noch im April 1941 der Fall war, wissen wir nicht.
Die Verwaltung der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren teilt ihrem Bruder Max Müller am 7. April 1941 mit:
Sehr geehrter Herr Müller!
Auf ihr geschätztes Schreiben vom 4.4. teilen wir Ihnen höflich mit, dass sich der Zustand ihrer Frl. Schwester leider nicht im Mindesten geändert hat. Die Kranke ist völlig in sich versunken, ganz teilnahmslos und nicht ansprechbar. In den letzten Wochen verweigerte sie sogar zuweilen die Nahrungsaufnahme. Anlässlich ihres geplanten Besuches, der uns allzeit erwünscht ist, werden sie sich selbst ein Bild über das Befinden der Kranken machen können Heil Hitler!
Gez. i.A.14
Ob dieser geplante Besuch stattgefunden hat, wissen wir nicht. Karoline bleibt nur ein halbes Jahr in Kaufbeuren. Ihr Patientenbogen vom 8. August 1841 hält fest:
„Zustand verschlechterte sich, Kranke ging nicht mehr aus sich heraus, saß nur verträumt da, zerkratzte ihr Gesicht. Auch das körperliche Befinden war schlechter, ohne dass ein objektiver Befund zu erheben gewesen wäre. Patientin wurde heute verlegt.“15
Zusammen mit weiteren 142 Frauen wird Karoline Balbina Müller, darunter die Augsburgerinnen Therese Baumeister, Johanna Baur, Maria Egger, Maria Eichberger, Walburga Federhofer, Maria Garke, Maria Göhly, Anna Göldl, Barbara Hölzle, Aloisia Kempter, Balbina Müller, Maria Müller, Pfiffner Agnes, Ragner Anna, Liselotte Sack, Wilhelmine Schindler, Rosa Schlosser, Walburga Schlosser, Maria Schmucker, Karoline Schweizer, Martha Treichel, Maria Wiesenbarth, Maria Wörle, in die Tötungsanstalt nach Schloss Hartheim bei Linz deportiert und dort vergast.16 Es war der letzte Transport, danach wurde das Tötungsprogramm im Rahmen der Aktion T4 zwar beendet, das Morden wird allerdings nun in den Heil- und Pflegeanstalten fortgesetzt.
Die Opfer kommen zur Westseite des Schlosses, die dort in einen Holzschuppen einfahren. Die Opfer betreten das Schloss durch einen Seiteneingang. Die Transportbegleiter führen die Opfer zum Entkleidungsraum im Nordflügel des Schlosses. Die Kleider jedes Opfers werden mit einer Nummer versehen und aufbewahrt, ebenso persönliche Gegenstände und Schmuck. Die Pflegerinnen besorgen die Registrierung und Entkleidung. Im Oktober 1940 werden 11 Pfleger und Pflegerinnen aus dem Personalstand der Heil- und Pflegeanstalt des Reichsgaues Wien in Ybbs nach Hartheim dienstverpflichtet. Nur Franz Sitter verlangt, nachdem er Einsicht gewonnen hat, um Enthebung von der Dienstverpflichtung und Einberufung zur Wehrmacht.
Die PflegerInnen führen die nackten Menschen in den sog. Aufnahmeraum in der Nordostecke des Erdgeschosses. Hier wartet der Arzt, um anhand der Krankenakten und der Transportlisten die Identität der Opfer zu überprüfen.
In Hartheim entscheidet dann der Arzt – Dr. Lonauer oder Dr. Renno – bei der letzten Begutachtung, ob der Mensch vor ihm als besonderer medizinischer Fall anzusehen ist, dessen Organe, vor allem das Gehirn, nach seiner Ermordung für die Forschung präpariert werden soll. Diese Opfer werden besonders gekennzeichnet, ebenso jene, die goldenen Zahnersatz besitzen. Die als „medizinisch interessant“ gekennzeichneten Opfer werden anschließend in der Fotozelle fotografiert.
Wenn die Opfer diese Prozeduren durchlaufen haben, bringen die Pflegerinnen sie in die Gaskammer. Die Gaskammer, ein Raum von ca. 25 m2, ist wie ein Brausebad eingerichtet. Sechs Brauseköpfe, in der ersten Zeit auch Lattenroste und hölzerne Sitzbänke, sollen diese Illusion hervorrufen. Maria Himmelsbeck, eine der Pflegerinnen schildert die Täuschung der Opfer: „Wenn sie ansprechbar waren, sagte man ihnen, sie würden gebadet. Viele freuten sich auf das Baden, auch wenn sie sonst nichts erfassten. Manche wollten sich nicht waschen lassen, man musste sie ins Bad zerren.“
In der Regel werden 30-60 Menschen in die Gaskammer gebracht, bei größeren Transporten werden allerdings noch mehr in den kleinen Raum gepfercht. Wenn die luftdichten Türen verschlossen sind, lässt Dr. Lonauer oder Dr. Renno das Gas einströmen, indem er im Nebenraum den Gashahn öffnet. Die Gasleitung verläuft am Boden der Gaskammer entlang der Wände, das verwendete Gas ist Kohlenmonoxyd, das in Stahlflaschen von der Firma IG Farben in Ludwigshafen geliefert wird. Die Tötungsmethode mittels Kohlenmonoxyd ist von dem Chemiker Alfred Widmann entwickelt worden, der beim Kriminaltechnischen Institut in Berlin beschäftigt ist.
Nach 10-15 Minuten Gaszufuhr sind die Menschen in der Gaskammer tot. Die Brenner warten noch ungefähr eine Stunde, bis sie die Gaskammer entlüften und die Türen öffnen.
Nun beginnt die eigentliche Arbeit der Brenner. Sie transportieren die Toten in den anliegenden Totenraum und separieren die gekennzeichneten Leichname. Vinzenz Nohel, der von April 1940 bis Dezember 1944 in der Tötungsanstalt arbeitet, gibt bei seiner Vernehmung an: „Das Wegbringen der Toten vom Gasraum in den Totenraum war eine sehr schwierige und nervenzermürbende Arbeit. Es war nicht leicht, die ineinander verkrampften Leichen auseinander zu bringen und in den Totenraum zu schleifen.“18
Die Toten, die zur Obduktion bestimmt worden sind, werden in den entsprechenden Raum gebracht, der sich im Westflügel gegenüber dem Totenraum befindet. Der Pfleger und Pathologiegehilfe Hermann Wentzel aus der Nervenklinik Berlin-Buch entnimmt den Toten die Gehirne oder andere Organe und konserviert sie in Formalin. Ein Teil der Gehirne geht nach Wien; welche weiteren Institutionen Abnehmer der Hartheimer Präparate sind, ist derzeit nicht bekannt.
Im Krematoriumsraum, der an den Totenraum anschließt, befindet sich ein Krematoriumsofen der Firma Kori, in dem jeweils zwei bis acht Tote gleichzeitig verbrannt werden. Der mit Koks beheizte Ofen ist phasenweise praktisch ständig in Betrieb, nur so ist die Verbrennung so vieler Toter überhaupt zu bewältigen. …
Wenn die Körper nach der Verbrennung nicht vollständig zu Asche zerfallen sind, werden die Knochen in einer elektrischen Knochenmühle zerkleinert, die in einer Ecke des Krematoriumsraums steht. Ein Teil der Asche wird dazu verwendet, die Urnen zu befüllen; eine Urne umfasst ungefähr 3 kg Asche.19 Die restliche Asche wird von den Brennern in Säcke verpackt. Die Asche wird sodann aus den Säcken heraus in die Donau geschüttet. Später wird die Asche im ehemaligen Schlossgarten an der Ostseite des Gebäudes vergraben.20
Es ist der letzte Transport nach Hartheim. Danach wird wegen der Proteste der katholischen und protestantischen Bischöfe die Verlegung von Patienten in die Tötungsanstalten am 24. August 1941 eingestellt.21
Die Ermordung der Menschen aber geht weiter. Dr. Faltlhauser stellt im bayerischen Innenministerium am 17. November 1942 den anderen Anstaltsleitern eine neue Tötungsmethode vor, die schließlich von allen Anstaltsleitern übernommen wird. Um Kosten einzusparen, soll den nicht arbeitsfähigen Patienten weniger zu essen gegeben werden als den arbeitsfähigen. Die sogenannte Entzugskost (E-Kost), die wenige Tage später gemäß ministeriellem Erlass für alle bayerischen Anstalten verbindlich gemacht wird22 , ist eine Ernährung ohne Kohlehydrate und Fett, bestehend aus wenig Brot und Gemüse23 Zusätzlich erhalten die „lebensunwerten“ Patienten Luminal in die Nahrung, in manchen Fällen wird ihnen Morphium-Skopolamin gespritzt.
Biografie erstellt von Dr. Bernhard Lehmann, StD, Gegen Vergessen – Für Demokratie, RAG Augsburg-Schwaben bernhard.lehmann@gmx.de
2020
Stadtarchiv Augsburg (StadtAA)
Meldebogen (MB):
– Max Ferdinand Müller
– Amalie Müller
Meldekartei II (MK II):
– Amalie Müller
– Dorothea Müller
– Max Müller, jun.
Historisches Archiv des Bezirkskrankenhaus Kaufbeuren (Hist. Arch BKh Kaufbeuren)
– Nr. 12009
Bundesarchiv Berlin (BA Berlin)
– R 179/21731
Initiativkreis Stolpersteine für Augsburg und Umgebung
(https://stolpersteine-augsburg.de/)
– Foto: Stolperstein
Götz Aly (Hg.), Aktion T4: 1939-1945. Die „Euthanasie“-Zentrale in der Tiergartenstraße 4, 2. Auflage, Berlin 1989.
Michael Burleigh (Hg.), Tod und Erlösung. Euthanasie in Deutschland 1900-1945, Zürich 2002.
Brigitte Kepplinger, Gerhart Marckhgott, Hartmut Reese (Hg.), Tötungsanstalt Hartheim, 2. Auflage Linz, 2008.
Brigitte Kepplinger, Tötungsanstalt Hartheim 1940-1945, in: Brigitte Kepplinger, Gerhart Marckhgott, Hartmut Reese (Hg.), Tötungsanstalt Hartheim, 2. Auflage Linz, 2008, S. 63-116.
Ernst Klee, (Hg.), Dokumente zur „Euthanasie“, Frankfurt/Main 1985.
Wolfgang Neugebauer, Die „Aktion T4“, in: Brigitte Kepplinger, Gerhart Marckhgott, Hartmut Reese (Hg.), Tötungsanstalt Hartheim, 2. Auflage Linz, 2008, S. 17-34
Erich Resch/Petra Schweizer-Martinschek, Die Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren-Irsee während der NS-Zeit, in: Stefan Dieter (Hg.), Kaufbeuren unterm Hakenkreuz. Kaufbeurer Schriftenreihe Band 14, S. 114-133.
Ulrich Pötzl, Sozialpsychologie, Erbbiologie und Lebensvernichtung. Valentin Faltlhauser, Direktor der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren-Irsee in der Zeit des Nationalsozialismus, München 1995.