Perchtoldsdorf/Österrreich
Plank/Österreich
Kissing
Augsburg, Inneres Pfaffengäßchen 14
KZ Dachau
KZ Sachsenhausen
Karl Held stammt aus Perchtoldsdorf bei Wien. Sein Vater Georg1 ist Zimmermann. Georgs erste Frau Maria, geb. Sommerbauer stirbt am 3. März 1890, und so verehelicht er sich am 24. November 1890 mit Maria Koholzer.2
Karl und seine Schwester Anna stammen aus der zweiten Ehe seines Vaters.3 Wie sein Vater erlernt er den Beruf des Zimmermanns. Für Zimmermannsleute in damaliger Zeit ist es selbstverständlich, dass sie auf der „Walz“ Stellungen in anderen Ortschaften annehmen, um ihre Kenntnisse zu ergänzen, zu komplettieren und Erfahrungen auszutauschen.
Über seinen Werdegang wissen wir gar nichts, wir kennen seine Vorlieben, Hobbies, seine charakterlichen Stärken und Schwächen nicht.
Immerhin ist bekannt, dass der 30-jährige Karl am 4. Februar 1928 in Plank/Österreich Josefa Bernd heiratet, von der er sich aber vor 1940 wieder scheiden lässt.4 Vermutlich ist die häufige Abwesenheit von seiner Ehefrau ein wesentlicher Grund für die Scheidung.
Wo war er ab diesem Zeitpunkt unterwegs, wo hat er gearbeitet? Am 6. Oktober 1939 kommt Karl Held von Kissing nach Augsburg.5 Hier wie dort scheint er seinem Beruf als Zimmermann nachgegangen zu sein. Unterlagen sind allerdings weder in Kissing noch in Augsburg erhalten.6
Karl wohnt im Inneren Pfaffengäßchen 14.7 Die dortige „Herberge zur Heimat“ wird von der Inneren Mission betrieben.8
Obdachlose, Wanderarbeiter und Schutzsuchende geraten früh in den Fokus der Nationalsozialisten, die bestrebt sind, die sogenannte Wandererfürsorge der Wohlfahrt in das nationalsozialistische Repressionssystem einzubinden. Anfangs reagieren einige der national gesinnten protestantischen Verbände und Einrichtungen mit großer Zustimmung auf die nationalsozialistische Machtergreifung.9
Die polizeilichen Maßnahmen, die im September 1933 im Rahmen der sog. Bettlerrazzia zur Verhaftung von Wanderern, Bettlern und Obdachlosen führen, werden bereitwillig unterstützt. Gegen einen Austausch der Führungskräfte glaubt man gewappnet zu sein, da „sämtliche Herren des Vorstandes als national zuverlässig bekannt seien“.10
Das Verbandsorgan „Der Wanderer“ veröffentlicht schon seit 1934 eine „Fahndungskartei für Asoziale“, und in Bayern und Württemberg bestehen regionale Karteien über die Wohnungslosen.11
Der Psychiater Carl Schneider (Bethel) plädiert in einem Vortrag in Goslar im Oktober 1933 sogar für Sterilisationsmaßnahmen in den Einrichtungen der Wandererfürsorge, die schließlich auch in vielen Arbeiterkolonien durchgeführt werden.12
Die „Herberge zur Heimat“ im Inneren Pfaffengäßchen 14 ist Karl Helds letzter freier Wohnsitz.13 Es ist anzunehmen, dass Karl Held als Wanderarbeiter von der Aktion „Arbeitsscheu Reich“ betroffen ist. Am 30. März 1940, also nach knapp 6 Monaten in Augsburg, wird er als „ASO“, also als sog. „Asozialer“ ins KL Sachsenhausen eingeliefert.14
Es fehlen Unterlagen, die ein mögliches deviantes oder delinquentes Verhalten von Karl Held indizieren würden. Wir können diesbezüglich allenfalls aus ähnlich gelagerten Fällen Rückschlüsse ziehen.15
Von den Nationalsozialisten wird die bereits vor 1933 vorherrschende Ausgrenzung, Stigmatisierung und Sanktionierung der als „asozial“ klassifizierten Gruppen übernommen und forciert.
Ihr Vorgehen ist von zunehmender Unnachsichtigkeit, Radikalität und Unmenschlichkeit gegen diese Gruppen geprägt und von der nationalsozialistischen Vererbungslehre und Rassenhygiene scheinbar zusätzlich legitimiert.
„Asoziale“, in der Sprache der Nationalsozialisten auch als „Gemeinschaftsfremde“ bezeichnet, gelten als „minderwertig“, als „moralisch schwachsinnig“ mit „primitiver Geistesverfassung“ und sind demzufolge auch nicht Mitglieder der deutschen Volksgemeinschaft. „Asozialität“ betrachten die Nationalsozialisten als vererbbares Merkmal. Mit der Anwendung (erb-)biologischer Maßnahmen wie Zwangssterilisation und anderer Formen der „Verhütung erbkranken Nachwuchses“ bis hin zur physischen Vernichtung von Menschen, die als „minderwertig“ oder „erbkrank“ beurteilt werden, soll die sog. „Volksgemeinschaft“ vor Schädigungen bewahrt und in ihrer Substanz gefestigt und gestärkt werden16 .
Allerdings bleibt von Anfang an ein breiter Interpretationsspielraum, wer genau als „asozial“ oder „gemeinschaftsfremd“ zu gelten hat. Nach den „Richtlinien“ zum „Grunderlass vorbeugende Verbrechensbekämpfung" vom 4. April 1938, die für die Verhängung von kriminalpolizeilicher Vorbeugungshaft ausschlaggebend ist, gilt als „asozial“,
„wer durch gemeinschaftswidriges, wenn auch nicht verbrecherisches Verhalten zeigt, dass er sich nicht in die Gemeinschaft einfügen will. Demnach sind z.B. asozial: a) Personen, die durch geringfügige, aber sich immer wiederholende Gesetzesübertretungen sich der im nationalsozialistischen Staat selbstverständlichen Ordnung nicht fügen wollen. […] b) Personen, ohne Rücksicht auf etwaige Vorstrafen, die sich der Pflicht zur Arbeit entziehen und die Sorge für ihren Unterhalt der Allgemeinheit überlassen.“17
Willkürlicher Verhaftung und Ausgrenzung sind damit Tür und Tor geöffnet. Im Gegensatz zu anderen Opfergruppen sind die „Asozialen“ in der NS-Verfolgungspraxis keine per Erlass oder Verordnung klar definierte Gruppe. Vielmehr handelt es sich um „eine extrem abwertende Sammelbezeichnung für abweichendes Verhalten unterschiedlichster Form“. Die Beliebigkeit und Willkür bei der Erfassung der „Asozialen“ zeigt, dass letztendlich jeder dieser Kategorie zugerechnet werden kann, wenn die Machthaber dies wollen.18
Die mit der „Asozialenproblematik“ befassten Akteure des NS-Staats (Sozial- und Medizinalverwaltung, Wohlfahrtsverbände, Sicherheitsbehörden, Justiz) charakterisieren deshalb ganz unterschiedliche Personengruppen als „asozial“ oder „gemeinschaftsfremd“ und verfolgen jeweils eigene „Lösungsansätze“.19 Entsprechend heterogen ist die von den Nationalsozialisten als „asozial“ diffamierte und verfolgte Opfergruppe zusammengesetzt. Auch in der Hierarchie der Häftlinge nehmen die sog. „Asozialen“ den untersten Platz ein und werden auch von den Mithäftlingen isoliert und verachtet, gelten als unzuverlässig und unsolidarisch und den ohnehin harten Lageralltag noch erschwerend.20
Gegen diese heterogene Gruppe von Kleinkriminellen, Obdachlosen, Wanderarbeiter, Alkoholiker, Bettler, Fürsorgeempfänger, Zigeuner und zigeunerhaft Umherziehenden, zu der ab 1937 schließlich auch Juden, Homosexuelle, Sinti, Roma oder politische Oppositionelle gerechnet bzw. subsumiert werden21 , gehen die Nationalsozialisten von Anfang an erbarmungslos vor. Ab 24. November 1933 führen sie im „Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher“ „Maßnahmen der Sicherung und Besserung“ ins deutsche Strafrecht ein.22 Die Novelle wird unter §42e in das RStGB eingefügt.23 Neben der dort verankerten „Sicherheitsverwahrung“ sind jetzt die Zwangsunterbringung in Heil- und Pflegeanstalten, Trinkerheilanstalten, Entziehungsanstalten und Arbeitshäusern, die Untersagung der Berufsausbildung, die Reichsverweisung und die „Entmannung“ „gefährlicher Sittlichkeitsverbrecher“ möglich.24 Fortan können die Gerichte Angeklagte, die sie nach § 351 RStGB wegen Bettelei, Landstreicherei, Verwahrlosung, „Arbeitsscheu“, Obdachlosigkeit oder Prostitution verurteilt haben, im Anschluss an die Strafhaft direkt in ein Arbeitshaus einweisen, um die Betroffenen „zur Arbeit anzuhalten und an ein gesetzmäßiges und geordnetes Leben zu gewöhnen.“25
Einen Höhepunkt in der Verfolgung von Wanderern, Obdachlosen und Bettlern bildet die so genannte Aktion „Arbeitsscheu Reich“ in der Zeit vom 13. bis 18. Juni 1938.26 Sie soll sowohl der Erschließung von Arbeitskraftreserven als auch der Einschüchterung und Disziplinierung gelten.
Zur Vorbereitung der Aktion arbeitet die Polizei mit den Arbeitsverwaltungen und den Wandererfürsorgeverbänden zusammen. Sie kann dabei auf die sog. Fahndungskartei für Asoziale zurückgreifen, die seit 1934 im „Wanderer“ veröffentlicht wird.27 Bei der Aktion werden ca. 11.000 Wanderer, Bettler und Obdachlose verhaftet und in die Konzentrationslager Dachau, Buchenwald und Sachsenhausen eingeliefert. Dort werden sie der Häftlingsgruppe der „Asozialen“ zugeordnet, die mit einem schwarzen Winkel gekennzeichnet sind.28
Vor diesem Hintergrund sind die Maßnahmen gegen Karl Held zu sehen. Wir wissen nicht, welcher Vergehen er sich schuldig gemacht haben soll. Auf seiner Meldekarte in Augsburg sind keinerlei Vergehen registriert. Seit dem 30. März 1940 befindet er sich im KZ Sachsenhausen und hat dort die Häftlingsnummer 18048. Am 17. September 1940 wird Karl Held vom KL Sachsenhausen ins KZ Dachau „verlegt“ und wird dort mit der Häftlingsnr. 19594 registriert. Es ist zu vermuten, dass Karl Held zuerst ins KZ Dachau kam, ehe er Ende März ins KZ Sachsenhausen kam, aber hierüber verfügen wir über keine Unterlagen. Auf der Karteikarte der Schreibstube in Dachau heißt es lapidar: „Zimmermann, Ehestand: geschieden, Konfession r.k“.29 Als Haftgrund ist angegeben: „Arbeitszwang, Reich“, Aso.
In Dachau verstirbt Karl Held am 28. Februar 1941. Der Standesbeamte protokolliert auf der Todesanzeige: „Versagen von Herz und Kreislauf“, laut schriftlicher Anzeige der Staatspolizeileitstelle München vom 1. März 1941.30
Wir wissen nicht, wie und wann die Nazischergen Karl Held ermordet haben. Wir kennen die wahre Todesursache ebenso wenig. Todeszeitpunkt und Todesursache der Häftlinge sind fingiert.
Wir wissen nicht einmal, wo die sterblichen Überreste Karl Helds begraben sind. Umso wichtiger ist es, an diesen Menschen mit einem Stolperstein und einer Biografie zu erinnern.
Biografie erstellt von Dr. Bernhard Lehmann StD, Gegen Vergessen – Für Demokratie RAG Augsburg-Schwaben, 86368 Gersthofen, Haydnstr. 53 bernhard.lehmann@gmx.de
2020
Stadtarchiv Augsburg (StadtAA)
Meldekarten II (MK):
– Karl Held
ITS Bad Arolsen
– Karl Held
Stadtarchiv Perchtoldsdorf
– Meldezettel Karl Held Nr. 223
Initiativkreis Stolpersteine für Augsburg und Umgebung
(https://stolpersteine-augsburg.de/)
– Foto: Stolperstein
Wolfgang Ayaß, „Ein Gebot der nationalen Arbeitsdisziplin“. Die Aktion „Arbeitsscheu Reich“ 1938, in: Beiträge zur nationalsozialistischen Gesundheits- und Sozialpolitik, Bd. 6, Berlin 1988, S. 43-74:
https://kobra.uni-kassel.de/bitstream/handle/123456789/2007013116965/AktionArbeitsscheuReich.pdf;jsessionid=BD55F6A681CE836F4613F17B92BF01F6?sequence=3
Taufbuch Perchtoldsorf bei Wien:
http://data.matricula-online.eu/de/oesterreich/wien/perchtoldsdorf/01-17/?pg=234
Wissenschaftliche Dienste Deutscher Bundestag, „Asoziale im Nationalsozialismus; Berlin 2016:
https://dip21.bundestag.de/dip21/btd/19/089/1908955.pdf
Wolfgang Ayaß, Schwarze und grüne Winkel. Die nationalsozialistische Verfolgung von »Asozialen« und »Kriminellen« — ein Überblick über die Forschungsgeschichte, in: KZ-Gedenkstätte Neuengamme (Hg.), Ausgegrenzt. „Asoziale“ und „Kriminelle“ im nationalsozialistischen Lagersystem, Bremen 2009, S. 16-30.
Julia Hörath, „Asoziale“ und „Berufsverbrecher“ in den Konzentrationslagern 1933-1938, Göttingen 2017.
Haus der Bayerischen Geschichte (Hg.), Der unbekannte Riese. Geschichte der Diakonie in Bayern. Katalog zur Wanderausstellung in Augsburg von November 2004 – November 2005.
Gertraud Stab, 100 Jahre Diakonisches Werk Augsburg, Augsburg 1995, insbes. S. 51-64.