Hugo Steinfeld

Date of Birth:
20.11.1864, Rinteln/Niedersachsen
Suicide:
06.11.1941, Augsburg

Residencies

Augsburg, Bahnhofstraße 18 1/5

Last voluntary residence

Places of persecution

Suicide November 6, 1941

Memorial sign

On 28 June 2017, a remembrance post for Hugo und Karolina Steinfeld was installed at Bahnhofstraße 18.

Biography
Lina und Hugo Steinfeld, etwa 1938. (Foto: Archiv George Sturm)

Hugo Steinfeld (1864–1941)

geboren 20.11.1864, Rinteln/Niedersachsen
Wohnort Augsburg: Bahnhofstraße 18 1/5
Freitod 6.11.1941 Augsburg
-Ehefrau: Karolina Steinfeld, geb. Heilbronner
geboren 3.12.1869 Zweibrücken/Rheinland-Pfalz
Freitod 6.11.1941, Augsburg

Lina und Hugo Steinfeld ca. 1938 im Augsburger Siebentischwald (Foto: Archiv George Sturm)

Am 29. Oktober 1890 schlossen der Kaufmann Hugo Steinfeld und Karolina („Lina“) Heilbronner im Standesamt der Stadt ihre Ehe. Einen Tag später fand die offizielle Hochzeitsfeier in München statt. 1

Hugo Steinfeld war 1864 in Rinteln geboren, einer Kleinstadt in Niedersachsen, die zur hessischen Grafschaft Schaumburg gehörte. Die Steinfelds von Rinteln waren Händler und Kaufleute und Mitglieder einer jüdischen Gemeinde, die damals auf eine dreihundertjährige Geschichte zurückblickte. 2

Lina Heilbronner dagegen war gebürtige Augsburgerin. Sie wurde 1869 als vierte Tochter von Michael Heilbronner (geb. 1833) und seiner Frau Henriette, geb. Wimpfheimer (geb. 1837) in Augsburg geboren. 3 Ihre Eltern stammten aus Ichenhausen, wo Mitte des 19. Jahrhunderts nach Fürth die zweitgrößte jüdische Gemeinde im damaligen Königreich Bayern bestand. Lina Heilbronners Großvater Heinrich Wimpfheimer (gest. 1876) stand dort Jahre lang der jüdischen Gemeinde vor. 1852 hatte er erreicht, dass die 1781 errichtete Synagoge umfassend renoviert wurde. 4 Als Gemeindebevollmächtigter war er auch in der bürgerlichen Gemeinde aktiv, und zwar fast 30 Jahre lang, von 1847 bis zu seinem Tod. 5

Linas Vater Michael Heilbronner lebte vor seiner Hochzeit mit Henriette Wimpfheimer Mitte des 19. Jahrhunderts mehrere Jahre in den USA. Wie viele andere Juden aus Bayern hatte er das Königreich verlassen, da es mit seiner restriktiven Niederlassungspolitik keine Entfaltungs­möglich­keiten für die jüdische Bevölkerung zuließ. Das „Judenedikt“ von 1813 schrieb die Zahl der an einem Ort zugelassenen Juden fest, um ein Wachstum der jüdischen Gemeinden zu verhindern. 6 Nach seiner Rückkehr heiratete Michael Heilbronner 1857 Henriette Wimpfheimer. 7 Das junge Paar zog nach seiner Heirat zunächst nach Zweibrücken in der Pfalz, wo die ersten drei Töchter zur Welt kamen. Dort erhielten Henriette und Michael Heilbronner auch das Bürger- und Heimatrecht. 8 Als 1861 die Niederlassungs­beschränkungen für Juden in Bayern aufgehoben wurden, zog die Familie 1868 nach Augsburg, das damals gerade dabei war, sich zu einer Metropole der Textilindustrie und des Textilhandels zu entwickeln. Auch Michael Heilbronner war im Textilhandel tätig. Zunächst gründete er eine Kleiderfabrik, 1871 meldete er dann mit seinem Schwager Jakob Wimpfheimer eine Kleiderhandlung an. 9 Die gemeinsame Firma sollte schon wenige Jahre später als „Wimpfheimer & Cie.“ in der Region und darüber hinaus bekannt werden. Selbst im Norden Deutschlands warben sie für ihre Stoffe.

Michael Heilbronner starb 1891 in Augsburg, seine Frau 1912. Beide wurden auf dem Jüdischen Friedhof in der Haunstetter Straße beigesetzt.

„Ein bedeutendes und angesehenes Textilunternehmen“

Nach Michael Heilbronners Tod wurde sein Schwiegersohn Hugo Steinfeld Teilhaber der Firma, 10 die sich inzwischen auf den Groß- und Einzelhandel sowie den Versand von Textilien spezialisiert hatte. Unter ihm expandierte das Unternehmen weiter und entwickelte sich zu einem „bedeutenden und angesehenen Textilunternehmen“. 11

Im April 1896 erwarben Hugo Steinfeld und sein Kompagnon Jakob Wimpfheimer ein Grundstück in bester Lage: In der Bahnhofstraße 18 1/5 ließen sie ein Geschäfts- und Wohnhaus im Stil der Neorenaissance errichten, 12 das mit seinen kupferbedeckten Türmen und Erkern, verbunden mit moderner Technik wie Elektrizität, Dampfheizung und Fahrstuhl, eine Sehenswürdigkeit in der Stadt darstellte. Die Bahnhofstraße verband den 1846 fertig gestellten Hauptbahnhof mit der Augsburger Innenstadt. Bald nach ihrer Erschließung wurde sie zu einer der wichtigsten Geschäftsstraßen und beliebtesten Wohngegenden im aufstrebenden Industriestandort Augsburg. Die Geschäftsräume der Firma „Wimpfheimer & Cie.“ befanden sich im Erdgeschoss des neuen Hauses. 1907 arbeiteten dort 27 kaufmännische Angestellte sowie 37 Arbeiter und Arbeiterinnen. 13 Vor dem Ersten Weltkrieg galt die Firma als „das größte Tuchexportgeschäft in Süddeutschland“. 14

Werbemarke der Tuchausstellung. Der Neubau fand überregional Beachtung: „Neubau der Firma Tuchausstellung Augsburg Wimpfheimer & Co., in Augsburg. Der unter Leitung der Architekten Wanner ausgeführte Neubau der Firma Tuchausstellung Augsburg Wimpfheimer & Co. in Augsburg ist im Stile der deutschen Renaissance gehalten und das Gebäude bildet mit seinen kupferbedeckten Türmen und Erkern eine Sehenswürdigkeit dieser Stadt. Es hat eine Breite von 35 m, eine Tiefe von 48 m und bildet im Innern einen Galeriebau dergestalt, daß man durch einen Lichthof die sich durch alle Stockwerke ausdehnenden Lagerräume übersehen kann. Der Bau ist mit allen Einrichtungen der Neuzeit, wie Fahrstuhl, elektrisches Licht und Dampfheizung, ausgestattet.“ (Deutsche Warte, Berliner Tageszeitung für Politik und Gesellschaft, geistiges und wirtschaftliches Leben, Erste Beilage vom 29. August 1897; Staatsbibliothek Berlin.)

Wie ihr Enkel George Sturm berichtet, waren seine Großeltern stolz auf ihre Herkunft, die sie an erster Stelle als deutsch und dann als jüdisch betrachteten. Sie lebten wie die meisten Juden in den größeren Städten damals nicht streng religiös, sondern weitgehend akkulturiert, d.h. der bürgerlichen Kultur angepasst. Sie führten ihren Haushalt nicht mehr koscher und nutzten den Sabbat nur noch zum geselligen Beisammensein der Familienmitglieder. 15 Für den erfolgreichen Unternehmer war es dennoch selbstverständlich, sowohl die jüdische Gemeinde als auch den Bau der neuen Synagoge in der Halderstraße, entsprechend dem jüdischen Wohltätigkeitsgebot, mit Spenden zu unterstützen. Das nötige Kapital für den prachtvollen Bau, der zwischen 1914 und 1917 nach den Plänen von Fritz Landauer und Dr. Heinrich Lömpel errichtet wurde, konnte überhaupt nur dank derartiger Zuwendungen von Gemeindemitgliedern und jüdischen Vereinen angesammelt werden.

Junge Familie

Lina und Hugo Steinfeld wurden ein Jahr nach ihrer Eheschließung Eltern: Sie bekamen am 4. August 1891 die Zwillingsmädchen Hedwig und Anna. Die beiden blieben ihr ganzes Leben lang ungewöhnlich eng miteinander verbunden. Annas Sohn George Sturm hat mitgeteilt, dass sie oft gleichzeitig das Gleiche in gleicher Intonation sagten und sich öfter gleichzeitig gegenseitig anriefen, so dass bei beiden ein Besetzt-Zeichen kam.

Die Zwillinge Hedwig und Anna Steinfeld (Foto: Archiv George Sturm)

Beide Töchter besuchten die von Stetten’sche Töchterschule, eine private protestantische Mädchenschule, in die viele jüdische Familien ihre Töchter schickten. Dort bekamen sie die für Töchter des Bürgertums in dieser Zeit übliche Erziehung. Dazu gehörten Grundkenntnisse in den Fächern Literatur, Musik, Geografie, Geschichte, Französisch, Englisch und Handarbeit. 16

Von Hedwig und Anna Steinfeld 1905 verschickte Karte (Quelle: Internet)

Beide Töchter wählten jüdische Partner: Hedwig Steinfeld heiratete 1914 den aus Jarotschin, damals Preußen, stammenden Zahnarzt Paul Englaender (geb. 1844). Die Familie lebte in der Annastraße 6, wo Paul Englaender auch seine Zahnarztpraxis hatte. – Anna Steinfelds Ehemann Max Sturm war Kaufmann. Sie heirateten am 12. November 1919 in Augsburg. Max Sturm war erst kurz zuvor von seinem Fronteinsatz im Ersten Weltkrieg heimgekehrt. Hugo Steinfeld machte seinen Schwiegersohn bald darauf zum Teilhaber der Firma Wimpfheimer & Cie. 17

Die „Tuchausstellung“

Durch einige im Internet verfügbare Dokumente kann man ein ungefähres Bild von der Geschäftstätigkeit der „Tuchausstellung“ gewinnen.

Anzeige von 1903 (Quelle: Internet)

In Anzeigen wie dieser von 1903 bietet die Firma Gratiskataloge und die Bestellung per Postkarte an, Versand ab 15 Mark portofrei, und „Entfernung ist kein Hindernis“.

Rechnung von 1905 (Quelle: Internet)

Hier eine Rechnung von 1905, im Kopf des Formulars wird der Firmensitz in Vorder- und Rückansicht gezeigt sowie sehr geräumige Verkaufsflächen.

Anzeige 1906 (Quelle: Internet)

Von 1906 stammt diese Anzeige.

Postkarte aus Duala, Kamerun (Vor- und Rückseite), 1905

Am 16. Februar 1905 wurde diese Postkarte beim Postamt Augsburg abgestempelt: eine Bestellung bei der Tuchausstellung, abgeschickt aus Duala, Kamerun, damals deutsche Kolonie. Die Karte war etwa drei Wochen unterwegs. Bestellt wurde per Nachnahme, genannt werden Katalogseite und Bestellnummer; leider haben wir einen entsprechenden Katalog nicht gefunden.

Die Bestellung kam aus dem deutschen Hospital in Duala, Kamerun. „Waschmann“ dürfte eine Berufsbezeichnung sein. Und wenn wir die Unterschrift richtig lesen, wurde die Karte geschrieben von Abu Bire, möglicherweise einem Schwarzen Mitarbeiter in der Wäscherei.

Das Beispiel dieser Postkarte an ein Augsburger Unternehmen zeigt, wie selbstverständlich der Handel mit den Kolonien zu Anfang des 20. Jahrhunderts geworden war. Er betraf ganz normale Firmen wie hier die Tuchausstellung Wimpfheimer, er betraf nicht nur Rüstungsexporte und Tropenmedizin, sondern selbstverständlich auch vielerlei Dinge des täglichen Bedarfs. So wurde mittelbar die ganze deutsche Gesellschaft zum Nutznießer des Kolonialismus.

Werbung 1920

1920 hat sich das Angebot weiterentwickelt, der Werbeslogan „Entfernung kein Hindernis“ ist geblieben. Es gibt Garantien, ein Rabatt-System, von Schafzüchtern wird Wolle direkt abgenommen, und es gibt einen Restemarkt.

Politisches und gesellschaftliches Engagement

Hugo Steinfeld genoss ein hohes gesellschaftliches Ansehen. Er gehörte zu den ersten Juden Augsburgs, die kommunalpolitisch aktiv wurden: zunächst von 1909 bis 1917 als Gemeindebevollmächtigter und in der Weimarer Republik von 1920 bis 1924 als Stadtrat für die liberale Deutsche Demokratische Partei. 18

Im Ersten Weltkrieg bekamen Hugo und Lina Steinfeld 1917 das König-Ludwig-Kreuz, eine Auszeichnung für Zivilpersonen, die sich um die Kriegswirtschaft und die Versorgung der Armee verdient gemacht hatten. 19 Wie für viele andere deutsche Juden war es auch für sie selbstverständlich, sich für das Vaterland zu engagieren. Da beide in ihrem Alter keinen Kriegsdienst mehr leisten konnten, waren sie an der Heimatfront aktiv. Hugo Steinfeld hatte als stellvertretender Vorsitzender der Kriegsbekleidungsstelle gewirkt.

Auch in der Weimarer Republik wurde Hugo Steinfeld für sein gesellschaftliches Engagement geehrt: Er erhielt 1924 den Titel eines Kommerzienrats. Mit dieser Ehrung wurden Persönlichkeiten der Wirtschaft ausgezeichnet, die sich unter anderem wie Steinfeld durch erhebliche Stiftungen für das Gemeinwohl eingesetzt hatten. Auf dem Vorschlagsformular vom 12.12.192420 für die Verleihung des Titels „Kommerzienrat“ wird sein umfangreiches gesellschaftliches Engagement gewürdigt:

Vorschlag
für die Verleihung des Titels eines Kommerzienrates

Vor- und Familienname
Hugo Steinfeld

Beruf
Großhändler und Stadtrat

Wohnort
Augsburg

Alter
60 Jahre

Im Besitz der bayer. Staatsangehörigkeit?
ja

Steht die Erfüllung der Steuerpflicht außer Zweifel?
ja

Hat sich der Vorgeschlagene besonders gemeinnützig betätigt und in welcher Weise?
War von 1910-1919 Mitglied des Kollegiums der Gemeindebevollmächtigten und gehört seitdem dem Stadtrat als eifriges Mitglied an. Er war außerdem Laienrichter, sowie stellvertretender Vorsitzender der Kriegsbekleidungsstelle und ist noch, und zwar seit vielen Jahren, Steuerausschussmitglied, Mitglied der Zulassungsstelle für Wertpapiere an der Augsburger Börse und Ausschußmitglied des Fremdenverkehrsvereins, ferner Mitglied des Disziplinargerichtes für nicht-richterliche Beamte. Für Wohlfahrtszwecke hat er wiederholt eine offene Hand gezeigt.

Sonstige Begründung
Seit 1890 ist Steinfeld Mitinhaber bezw. Alleininhaber der Fa. Wimpfheimer & Cie, Tuchgroßhandlung in Augsburg, die vor Kriegsausbruch wohl als das größte Tuchexportgeschäft in Süddeutschland angesprochen werden konnte und neuerdings versucht, die früheren Absatzgebiete zurückzugewinnen. Steinfeld ist ein sehr strebsamer und gewandter Geschäftsmann und ein sehr angesehener Bürger der Stadt. Er lebt in wohlgeordneten Verhältnissen.

Bayerisches Hauptstaatsarchiv München, Ministerium für Handel, Wirtschaft und Gewerbe, Signatur MHIG 2771

Dass eine so uneingeschränkte gesellschaftliche Anerkennung, wie sie in dem Ernennungsvorschlag zum Ausdruck kommt, innerhalb weniger Jahre in Ächtung umschlagen konnte, hat Steinfeld ebenso wenig wie viele andere vorhergesehen.

Erfolgreicher Prozess gegen ersten Boykottaufruf

1931 gab es einen ersten Boykottaufruf der Augsburger Nationalsozialisten gegen Geschäfte: 21

Anzeige in der Neuen National-Zeitung
(26. Februar 1931)

Parteigenossen und Anhänger der
nationalsozialistischen Bewegung
kauft nicht bei Juden! Unterstützt den deutschen Geschäftsmann in seinem schweren Ringen um seine Existenz! Vergeßt nicht bei Einkäufen auf die „Neue National-Zeitung“ Bezug zu nehmen!
Haltet Disziplin!

Eine Reihe der betroffenen Unternehmen reichte gegen diesen Boykottaufruf Klage ein, und das Landgericht erließ sehr schnell eine einstweilige Verfügung gegen den Verlag der Zeitung:


Einstweilige Verfügung

Aus der Neuen National-Zeitung
(28. Februar 1931):

Das Landgericht Augsburg 2, Zivilkammer erläßt in nichtöffentlicher Sitzung vom 25. Februar 1931 ... in Sachen

-Braumann und Günzburger, Kaufhaus
-Heinrich Grausmann, Bahnhofstraße
-S. Guttmann Nachf.
-Heinrich Kuhn, Bahnhofstraße
-Brüder Landauer A.G., Kaufhaus
-Emanuel Polatschek
-Kaufhaus Schocken
-A. Spanier, Kaufhaus
-M. Untermayer, Wäschefabrik
-Wimpfheimer u. Co., Bahnhofstraße

gegen (den) National-Verlag GmbH. in Augsburg ...

Den Antragsgegnern wird bei Meidung einer Geldstrafe in unbeschränkter Höhe oder einer Haftstrafe bis zu 6 Monaten verboten, Veröffentlichungen in der „Neuen Nationalzeitung“ zu erlassen des Inhalts: „Kauft nicht bei Juden, unterstützt den deutschen Geschäftsmann!“ …

Gründe:

… Die antragstellenden Firmen, deren Inhaber oder Leiter Juden sind, befürchten von Aufforderungen der obenbezeichneten Art mit Recht eine erhebliche Schädigung ihres Gewerbebetriebs.

Eine Aufforderung zum Boykott ist nicht schlechthin unerlaubt. Sie ist es aber dann, wenn sie gegen die guten Sitten verstößt. Die vorliegende Aufforderung zum Boykott jüdischer Firmen in der Verbindung mit dem Satze „Unterstützt den deutschen Kaufmann!“ will die politischen Ziele der Nationalzeitung durch wirtschaftliche Schädigung der jüdischen Geschäftsleute fördern. Eine solche lediglich aus politischen Gründen vorgenommene Verruferklärung ist sittenwidrig.


Der juristische Sieg, so bemerkenswert er auch aus heutiger Sicht scheint, dürfte die erfolgreichen jüdischen Unternehmer in der trügerischen Zuversicht bestärkt haben, dass der Rechtsstaat stabil sei.

Die Nationalsozialisten übernahmen die Macht, gegen Boykottaufrufe gab es keine juristische Handhabe mehr, und nach wenigen Jahren wurden die jüdischen Unternehmer unter dem Stichwort „Arisierung“ zum Verkauf zum Schleuderpreis gezwungen, oft an NS-Gefolgsleute.

Hugo Steinfeld und Max Sturm mussten ihre Firma am 15. Oktober 1938 an Emil Wiedemann, ein NSDAP-Mitglied aus Augsburg, verkaufen. 22

Anna und Max Sturm mit ihrem Sohn Günter (George) konnten Ende Oktober 1939 per Schiff aus Antwerpen nach New York aufbrechen. Die Bürgschaft, das sog. Affidavit, das die amerikanischen Behörden für ein Einreisevisum verlangten, hatte ein entfernter Onkel von Anna Sturm gegeben.

Der Abschied von den Eltern Lina und Hugo Steinfeld sowie von Schwester und Schwager, Hedwig und Paul Englaender, fiel den Sturms sehr schwer. Die Steinfelds hatten sich aus Altersgründen gegen die Auswanderung entschieden. Hedwig und Paul standen vor einem anderen Problem. Paul Englaender hatte vergeblich einen Antrag auf Zulassung als Zahnarzt in Großbritannien gestellt. Beim Amerikanischen Konsulat, wo sein Schwager Max Sturm und zuvor seine Tochter und sein Sohn ein Visum bekommen hatten, musste er als „polnischer“ Jude mit wesentlich längeren Wartezeiten als seine Frau rechnen. Das Paar entschied sich unter diesen Bedingungen zusammen zu bleiben und gemeinsam auf die Papiere zu warten.

Freitod

Eltern 1938

Für Lina und Hugo Steinfeld, damals 70 und 75 Jahre alt, wurde das Leben nicht nur wegen der zunehmenden Repressionen unerträglich. Mehr noch belastete sie der Gedanke, ihrer Tochter Hedwig und ihrem Schwiegersohn Paul Englaender bei der Auswanderung im Weg zu stehen. Aus dieser verzweifelten Lage sahen sie nur einen Ausweg: ihren selbstbestimmten Tod. Ihre Abschiedsbriefe zeigen, dass sie ihren Freitod bewusst geplant hatten. 23 Im Schreiben von Lina Steinfeld an Tochter Hedwig und Schwiegersohn Paul Englaender heißt es:

„Wie oft waren wir im Laufe des letzten Jahres schon entschlossen dieser schönen Welt Lebewohl zu sagen, immer hat uns die Rücksicht auf euch zurückgehalten. Aber nun sind wir beide körperlich & seelisch zermürbt & die Zukunft wäre so unerträglich, daß wir nur noch den einen Wunsch haben, schnell & wenn möglich schmerzlos hinüberzuschlafen.“

Am 6. November 1941 nahmen sich Lina und Hugo Steinfeld in ihrer Wohnung gemeinsam das Leben. Sie wurden entsprechend ihrem letzten Wunsch eingeäschert und auf dem jüdischen Friedhof in der Haunstetter Straße beigesetzt.

Grabstein für Hugo und Lina Steinfeld

Nahezu gleichzeitig mit dem Freitod ihrer Eltern traf Hedwig und Paul Englaender ein weiterer Schlag: Ende Oktober verbot das Reichssicherheitshauptamt die Auswanderung von Juden für die Dauer des Kriegs. 24 Damit hatte sich ihre Hoffnung, Deutschland verlassen zu können, endgültig zerschlagen. Knapp einen Monat später begannen die Deportationen der Augsburger Juden in die Konzentrations- und Vernichtungslager im Osten. 25

Die Nachrichten darüber sammelte der Augsburger Rabbiner Ernst Jacob in seinen Rundschreiben „An meine Gemeinde in der Zerstreuung“. Im „Rundschreiben No. 7“ vom März 1944 stehen neben vielen anderen Namen auch Hedwig und Dr. Paul Englaender: „Dr. Paul und Frau Hedwig Englaender entzogen sich der Verschickung nach Polen durch Freitod in Augsburg“. 26 Ein paar Zeilen vorher wird der Tod von Anna Sturm in New York mitgeteilt. Sie war am 22. November 1943 an einer Hirnblutung gestorben. Ihr Mann und ihre Kinder waren davon überzeugt, dass sie den Tod ihrer Zwillingsschwester nicht ertragen konnte und an gebrochenem Herzen starb.

Grabstein für Hedwig und Paul Englaender

Diese Biografie ist zu großen Teilen identisch mit Passagen aus dem Buch von Souzana Hazan, „Lebenslinien“, Band 3: „‚… dieser schönen Welt Lebewohl sagen.‘ Der Weg der Familie Sturm aus Augsburg“, Augsburg 2010, ISBN 978-3-9812246-7-2.
Danke für die Unterstützung an George Sturm!
Zusammenstellung: Michael Friedrichs, April 2021

Footnotes
  1. Stadtarchiv Augsburg (StadtAA), Familienbogen Hugo Steinfeld, 20.11.1804.
  2. Kurt Klaus, Rintelns Juden. Geschichte der israelitischen Gemeinde, Porta Westfalica-Eisbergen 1993, S. 93, 95f., 103ff.
  3. StadtAA, Familienbogen Michael Heilbronner, 24.11.1833
  4. Allgemeine Zeitung des Judentums, Heft 22 (23.05.1853), S. 268.
  5. Georg Kreuzer, Von der Herrschaft der Familie Stain bis zum Ende des 1. Weltkriegs, in: Georg Kreuzer /Claudia Madel-Böhringer, Ichenhausen. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, Band 1: Von den Anfängen bis zum Ende des Ersten Weltkriegs, Ichenhausen 2007, S. 35-62, hier S. 44, 55.
  6. Siehe zur jüdischen Auswanderung aus Bayerisch-Schwaben Peter Maidl, Aspekte der Überseewanderung bayerisch-schwäbischer Juden im 19. Jh. – dargestellt anhand von Selbstzeugnissen, nebst einigen Anmerkungen zum Forschungsstand und ersten quantitativen Ergebnissen, in: Peter Fassl (Hg.), Geschichte und Kultur der Juden in Schwaben II, Stuttgart 2000, S. 87-114.
  7. George Sturm, Remembrances & Stories. A Photo Biography (for Augsburg), unveröffentlichtes Manuskript, Englewood, New Jersey, 2010. George Sturm hat 2003 seine Familiengeschichte für seine Söhne aufgeschrieben. Er stellte sie mit einigen aktuellen Ergänzungen dem JKM für diese Dokumentation zur Verfügung. Wenn nicht anders angegeben, stützen sich alle Angaben im Text auf diese Quelle.
  8. StadtAA, Familienbogen Michael Heilbronner, 24.11.1833
  9. StadtAA, Familienbogen Jakob Wimpfheimer, 15.06.1844
  10. StadtAA, Familienbogen Hugo Steinfeld, 20.11.1864; StadtAA, Familienbogen Jakob Wimpfheimer, 15.06.1844
  11. Bayerisches Wirtschaftsarchiv München (BWAM), K9, Nr. 2158.
  12. StadtAA, Familienbogen Jakob Wimpfheimer, 15.06.1844
  13. BWAM, K9, Nr. 2158.
  14. Siehe unten: Vorschlagsformular Kommerzienrat.
  15. Auskunft von George Sturm vom 31.08.2010.
  16. Auskunft des A.B. von Stettenschen Instituts Augsburg vom 13.09.2010.
  17. StadtAA, Familienbogen Max Sturm, 15.06.1884.
  18. StadtAA, Familienbogen Hugo Steinfeld, 20.11.1864. Das Kollegium der Gemeindebevollmächtigten bildete zusammen mit dem Magistrat und dem Bürgermeister die Gemeindevertretung. Es wurde von den wahlberechtigten Bürgern unmittelbar gewählt und wählte aus seiner Mitte den Bürgermeister; vgl. http://historisches-lexikon-bayerns.de/artikel/artikel_44499 (11.08.2010).
  19. StadtAA, Familienbogen Hugo Steinfeld, 20.11.1864.
  20. zit. nach Lebenslinien, S. 60.
  21. zit. nach: Karl Filser/Hans Thieme, Hakenkreuz und Zirbelnuss, Augsburg: Himmer 1983, Bindlach: Gondrom 1993, S. 40.
  22. Staatsarchiv Augsburg (StAA), Akten der Spruchkammer I Augsburg W 257, Emil Wiedemann, geb. 19.12.1892; StadtAA, Gewerbekarte II, Fa. Tuchausstellung Augsburg „Wimpfheimer & Co.“. Die Dresdner Bank Augsburg vermittelte bei dem Geschäft; siehe dazu auch Dieter Ziegler, Die Dresdner Bank und die deutschen Juden, München 2006, S. 193.
  23. Vgl. zum Selbstmord in der jüdischen Bevölkerung als „Akt der Selbstbehauptung“ während der NS-Zeit: Ursula Baumann, Suizid im „Dritten Reich“ – Facetten eines Themas, in: Michael Grüttner u.a. (Hrsg.), Geschichte und Emanzipation, Festschrift für Reinhard Rürup, Frankfurt/Main 1999, S. 482–516.
  24. Erlass des Reichssicherheitshauptamts vom 23.10.1941, siehe Walk, 1981, S. 353.
  25. Gernot Römer, Der Leidensweg der Juden in Schwaben. Schicksale von 1933-1945 in Berichten, Dokumenten und Zahlen, Augsburg 1983, S. 41; vgl. allgemein zu den Deportationen aus Bayern Wolfgang Benz, Deportation und Ermordung, in: Treml/Kirmeier, 1988, S. 491-501.
  26. Gernot Römer (Hg.), „An meine Gemeinde in der Zerstreuung.“ Die Rundbriefe des Augsburger Rabbiners Ernst Jacob 1941–1949 (Materialien zur Geschichte des Bayerischen Schwaben, Bd. 29), Augsburg 2007, S. 82.
Sources and literature
Published sources:

Baumann, Ursula, Suizid im „Dritten Reich“ – Facetten eines Themas, in: Michael Grüttner u.a. (Hrsg.), Geschichte und Emanzipation, Festschrift für Reinhard Rürup, Frankfurt/Main 1999, S. 482–516.

Benz, Wolfgang, Deportation und Ermordung, in: Manfred Treml/Josef Kirmeier, Geschichte und Kultur der Juden in Bayern. Aufsätze. München 1988.

Filser, Karl/Hans Thieme, Hakenkreuz und Zirbelnuss, Augsburg: Himmer 1983, Bindlach: Gondrom 1993

Hazan, Souzana, „Lebenslinien“, Band 3:
„‚… dieser schönen Welt Lebewohl sagen.‘
Der Weg der Familie Sturm aus Augsburg“,
Augsburg 2010

Klaus, Kurt, Rintelns Juden. Geschichte der israelitischen Gemeinde, Porta Westfalica-Eisbergen 1993.

Kreuzer, Georg, Von der Herrschaft der Familie Stain bis zum Ende des 1. Weltkriegs, in: Georg Kreuzer /Claudia Madel-Böhringer, Ichenhausen. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, Band 1: Von den Anfängen bis zum Ende des Ersten Weltkriegs, Ichenhausen 2007, S. 35-62, hier S. 44, 55.

Maidl, Peter, Aspekte der Überseewanderung bayerisch-schwäbischer Juden im 19. Jh. – dargestellt anhand von Selbstzeugnissen, nebst einigen Anmerkungen zum Forschungsstand und ersten quantitativen Ergebnissen, in: Peter Fassl (Hg.), Geschichte und Kultur der Juden in Schwaben II, Stuttgart 2000, S. 87-114.

Römer, Gernot (Hg.), „An meine Gemeinde in der Zerstreuung.“ Die Rundbriefe des Augsburger Rabbiners Ernst Jacob 1941–1949 (Materialien zur Geschichte des Bayerischen Schwaben, Bd. 29), Augsburg 2007.

Römer, Gernot, Der Leidensweg der Juden in Schwaben. Schicksale von 1933-1945 in Berichten, Dokumenten und Zahlen, Augsburg 1983

Sturm, George, Remembrances & Stories. A Photo Biography (for Augsburg), unveröffentlichtes Typoskript, Englewood, New Jersey, 2010.

Walk, Joseph, Das Sonderrecht für die Juden im NS-Staat. Eine Sammlung der gesetzlichen Maßnahmen und Richtlinien – Inhalt und Bedeutung. Heidelberg, Karlsruhe 1981.

Ziegler, Dieter, Die Dresdner Bank und die deutschen Juden, München 2006.