Marktoberdorf, Tigaustraße 41 1/5 (1937)
Stiefenhofen, Moos (1937 – 1943)
München, Clemens-August-Straße 9 (Heimanlage für Juden, Berg am Laim)
Auschwitz-Birkenau, Vernichtungslager
Am 3. Juni 2019 wurde ein Erinnerungsband für Gabrieles Mutter Charlotte Eckart, geb. Schwarz in der Gesundbrunnenstraße 3 angebracht. Es wird auch auf ihr Schicksal hingewiesen.
Gabriele Schwarz kommt am 24. Mai 1937 im Bezirkskrankenhaus Marktoberdorf im Allgäu auf die Welt.1 Ihre Mutter ist die Jüdin Charlotte Margarete Eckart geb. Schwarz aus Augsburg, genannt Lotte, Atemlehrerin in Liechtenstein.2
Der Vater ist unbekannt. Lotte gibt seinen Namen ihrer Lebtag nicht Preis, vermutlich weil es sich um einen Nicht-Juden handelt. Seit den „Nürnberger Rassengesetzen“ von 1935 wird der Verkehr von Juden mit Nicht-Juden nämlich als „Rassenschande“ bezeichnet, als Verbrechen verfolgt und mit einem Jahr Gefängnis bedroht.3 Jüdinnen lässt man kurzerhand im Konzentrationslager verschwinden.4
Schon am nächsten Tag, am 25. Mai 1937, wird die kleine Gabriele in der Krankenhauskapelle Marktoberdorf getauft. Erst 13 Tage zuvor ist ihre Mutter Lotte auf persönliche Empfehlung von Kardinal Faulhaber, dem Erzbischof von München und Freising, an gleicher Stelle getauft worden.5
Lotte war in Liechtenstein schwanger geworden, wo sie 1936 die Atemschule „Juventus“ eröffnet hatte.6 Ihr Plan an Liechtensteiner Schulen nach einem eigens erstellten Lehrplan das Fach „Atemlehre“ zu unterrichten, war allerdings gescheitert.7 Hochschwanger hatte sie im Frühjahr 1937 das Fürstentum verlassen und Zuflucht bei Rosalia Häringer in Marktoberdorf gesucht, die mehr als fünf Jahre Köchin bei ihrer Mutter Anna Schwarz in Augsburg gewesen war.8
Drei Wochen nach der Geburt vermittelt Rosalia Häringer nun Lottes Töchterchen als Pflegekind an ihre Schwester Therese, die auf dem Aichele-Hof in Stiefenhofen im Allgäu verheiratet ist. Josef und Therese Aichele lieben die kleine Gabi bald wie ein eigenes Kind und Lotte kommt ihre Kleine so oft es irgend geht besuchen. Sie lässt auch einen Fotoapparat auf dem Hof, mit dem das Aufwachsen des Kindes dokumentiert wird. Hunderte von Fotos bezeugen Gabis glückliche Kindheit.9
Zum 1. Januar 1939 müssen sich alle Juden durch die Annahme eines zusätzlichen Vornamens, „Israel“ bzw. „Sara“, zu erkennen geben.10 Wie ihre Mutter ist Gabi zwar getauft, für die Nationalsozialisten ändert das aber nichts an ihrer rassenmäßigen Zuordnung. Auch Gabi, obwohl ihr Vater unbekannt und aller Wahrscheinlichkeit nach ein Nicht-Jude ist, gilt aufgrund einer entsprechenden Klausel der „Nürnberger Gesetze“ als „Volljüdin“. Jetzt wird auch den frommen Pflegeeltern klar, dass ihre geliebte Gabi, mit der sie jeden Tag beten, den Nationalsozialisten als Jüdin gilt.
Die Frage taucht auf, ob Gabi überhaupt bei ihren Pflegeeltern, die sie „Mama“ und „Papa“ nennt, bleiben darf. Oberlehrer Johann Pletzer aus Genhofen, Gemeinde Stiefenhofen, setzt sich als örtlicher Jugendhelfer beim Amt für den Verbleib von Gabi bei Aicheles ein. Er erklärt, Gabi sei „ein selten schönes, liebenswertes und begabtes Kind“, das er gleich in sein Herz geschlossen habe.11 Oberlehrer Pletzer bescheinigt dem blonden und blauäugigen Mädchen darüber hinaus das „arischte Aussehen von allen Kindern“ seines Kreises.12 Tatsächlich darf Gabi bleiben. Vorerst.
Mit Hilfe von Kardinal Faulhaber bemüht sich Gabis Mutter Lotte um die Auswanderung zusammen mit ihrer Tochter ins rettende Ausland.13 Lotte hatte 1933 den bayerischen Hauptmann a. D. Wilhelm Eckart geheiratet – mit einer Ausnahmegenehmigung des Erzbistums München und Freising wegen Religionsverschiedenheit auch kirchlich.14 Faulhaber hatte Wilhelm Eckart bei einem Frontbesuch im Ersten Weltkrieg kennen und schätzen gelernt. Nach dem frühen Tod ihres Gatten 1934 hatte sich Lotte direkt an Faulhaber gewandt: Sie wollte getauft werden. Es dauert drei Jahre bis es dann soweit war.
Bis 1940 trifft sich Lotte 14 Mal zu persönlichen Unterredungen mit dem Kardinal, in denen es meist um ihre Auswanderung geht. Trotz einer Empfehlung von Faulhaber für Amerika sind alle Bemühungen vergeblich. 1941 wird Lotte verhaftet,15 als Schutzhäftling ins Konzentrationslager Ravensbrück eingewiesen16 und 1942 in Bernburg/Saale ermordet.17 Gabi gilt jetzt als Vollwaise. Der frühere Augsburger Rechtsanwalt, jetzt jüdischer Konsulent, Dr. Ludwig Dreifuß, wird zum Vormund bestellt.18
Im Sommer 1942 kommt die siebenjährige Elisabeth Walch aus Augsburg mit der Kinderlandverschickung auf den Aichele-Hof. Vier Wochen teilt sie mit Gabi die Kammer. Gabi und Elisabeth sind bald unzertrennlich und werden beste Freundinnen.19 Als Elisabeth wieder zurück in Augsburg ist, fragt Gabi jeden Tag nach ihr.20
Nach Lottes Tod stellt die Bayerische Hypotheken- und Wechselbank, Augsburg, Lottes Hausbank, beim Oberfinanzpräsidenten in München eine Anfrage: Soll der Dauerauftrag von 50.- RM Pflegegeld für Gabi an Therese Aichele in Stiefenhofen, der über Lottes Konto beauftragt ist, weiter ausgeführt werden?21 Die Antwort ist nein; die Anfrage landet „zuständigkeitshalber“ auch bei der Gestapo München.22
Wieder geht es um die Frage, ob Gabi als Jüdin bei Aicheles bleiben darf. Der Leiter des Judendezernats, Johann Pfeuffer, wendet sich mit einer entsprechenden Anfrage an das Reichssicherheitshauptamt in Berlin und erhält die Auskunft, dass Gabi als Jüdin nicht bei „arischen“ Pflegeeltern bleiben könne, sondern in ein Judenheim zu bringen sei.23 Pfeuffer weist daraufhin den Landrat des Bezirks Sonthofen, Dr. Ferdinand Waller, entsprechend an.24 Der verständigt am 12. Februar 1943 den Ortsgruppenleiter und Bürgermeister von Stiefenhofen, Johann Seelos, telefonisch, dass er Aicheles unverzüglich den Befehl überbringen müsse, Gabi am nächsten Morgen auf den ersten Zug zu bringen.25 Aicheles sind entsetzt. Gabis Vormund, Dr. Dreifuß, in Augsburg rät ihnen telefonisch, Gabi abzugeben. Sonst würden sie alle an die Wand gestellt.26
Schweren Herzens wird Gabi ein kleiner Koffer mit ihren Lieblingsspielsachen gepackt, obenauf ein Foto der Familie – zum Andenken.27 Am 13. Februar 1943 muss die fünfjährige Gabi ihrer Heimat für immer Lebewohl sagen.28 Noch am gleichen Tag wird sie nach München in die „Heimanlage für Juden Berg am Laim“ gebracht, das im Kloster der Vincentinerinnen untergebracht ist.29
Drei Tage später wird Gabis Köfferchen wieder auf dem Aichele-Hof abgegeben. „Juden dürfen von Ariern nichts besitzen!“ heißt es.30 Oberlehrer Johann Pletzer setzt sich für die Rückgabe des Kindes ein. „Das Kind muss her, gehe es, wie es wolle!“31 ist seine Devise. Dem Bürgermeister hält er Fotos von Gabi und ihrer Mutter unter die Nase. Dieser räumt ein, dass man dem Kind, das offenkundig nach dem „arischen“ Vater und nicht nach der jüdischen Mutter gerate, Unrecht getan habe.32 Der Landrat schreibt wegen Gabi an die Gestapo.33 Zusammen mit Pflegevater Josef Aichele spricht Oberlehrer Pletzer sogar persönlich bei der Gestapo in München vor. Die Rückgabe des Kindes nach der Prüfung seiner „erbbiologischen Veranlagung“ wird ihm in Aussicht gestellt.34 Bei einem Besuch in Berg am Laim sieht Pflegevater Johann Aichele Gabi durchs Schlüsselloch ein letztes Mal beim Spielen.35 Währenddessen sucht eine Freundin von Lotte, die Graubündner Architektin Yvonne Boner, in Liechtenstein fieberhaft nach dem aller Wahrscheinlichkeit nicht-jüdischen Vater.36 Doch zu spät!
Am 13. März 1943 wird das Heim geräumt, sämtliche Insassen werden in einen Zug gesetzt und nach Auschwitz verfrachtet.37 Am Abend des 16. März 1943, werden gleich nach der Ankunft die Alten und Kranken sowie die Kinder in der Gaskammer ermordet.38 Auch Gabi.39
Der Name „Gabriele Schwarz“ findet sich im Jüdischen Museum in München neben vielen anderen auf einer Gedenktafel, die die Namen der Münchner Opfer aufzählt. In der Spinner-Kapelle in Oberstaufen erinnert eine Gedenktafel an Gabi und ihre Mutter Lotte. In Stiefenhofen ist oberhalb des Ortes in einem Glasfenster der Pestkapelle neben Pater Maximilian Kolbe ein Mädchen mit einem Judenstern zu sehen, das ebenfalls an Gabi und all die anderen verfolgten „Judenkinder“ erinnern soll, obwohl Gabi selbst nie den Judenstern tragen musste. Dazu war sie noch zu klein. Im Jahr 2018 errichtete Familie Ermold in Marktoberdorf vor ihrem Haus in der Tigaustraße, in dem Lotte einst untergebracht war, als sie mit Gabi schwanger war und im Wochenbett, eine Gedenktafel, die an Gabi und ihre Mutter Lotte erinnert.
Im Augsburger Rathaus ist im Erdgeschoss eine Gedenkstätte für die ermordeten Augsburger Juden eingerichtet. Auf der Gedenktafel sind auch die Namen „Charlotte Eckart“ sowie „Gabriele Eckart“ zu lesen, mit der offenkundig Gabriele Schwarz gemeint ist.
Leo Hiemer
Archiv Leo Hiemer
Anna Schwarz, Dienstzeugnis für Rosalia Brugger, 01.10.1909
Elisabeth Franke geb. Walch, Bericht über ihren Aufenthalt auf dem Aichele-Hof im Sommer 1942, 08.08.1994
Yvonne Boner an Josef Aichele, 19.03.1943
Leo Hiemer, Interview mit Anna Embritz geb. Aichele, Hergensweiler, 13.06.1989
Leo Hiemer, Interview mit Resi Baumann, geb. Aichele, Rohrdorf, 12.06.1989
Leo Hiemer, Interview mit Xaver und Veronika Keck sowie Anni Hiemer, Stiefenhofen, 22.06.1989
Leo Hiemer, Zeitzeugen-Interview (Film) mit Resi Baumann im Auftrag des Hauses der Bayerischen Geschichte, 31.07.2012. (Ausschnitt unter https://www.hdbg.eu/zeitzeugen/treffer.php?t=4&v=&n=baumann).
Fotos von Gabi (1937-1943)
Archiv der katholischen Pfarrgemeinde St. Martin, Marktoberdorf
Erzbischöfliches Archiv München
Nachlass Faulhaber 10016, Michael von Faulhaber, Tagebucheintrag 28.02.1935 (verfügbar unter http://www.faulhaber-edition.de/dokument.html?
docidno=10016_1935-02-28_T01) und
28.08.1935 (verfügbar unter http://www.faulhaber-edition.de/dokument.html?docidno=10016_1935-08-28_T01&sortby=year) (=(=Erzbischöfliches Archiv München Nachlass Faulhaber 10016) sowie 10017: 08.07.1936, 10.07.1937; 10018: 27.12.1937, 04.01.1938, 11.01.1938, 18.01.1938, 31.10.1938; 10019: 30.09.1940, 18.12.1940
St. Bonifaz, München, Trauungsregister 1933, Nr. 150, S. 156, 24.08.1933
Hessische Hauptstaatsanwaltschaft
Liechtensteinisches Landesarchiv
Sächsisches Staatsarchiv Leipzig (SäStAL)
Staatsarchiv Augsburg (StAA)
Staatsarchiv Nürnberg (StAN)
Stadtarchiv Augsburg (StadtAA)
Stadtarchiv Marktoberdorf (StadtMOD)
Staatsarchiv München (StAM)
-EWK 65 Einwohnermeldeamtskarte Gabriele Schwarz
Spruchkammerakt K 1504 Seelos Hans
Oberfinanzdirektion München 8741, Entziehungsakt Gabriele Schwarz
Staatsanwaltschaften München 29499/I, Voruntersuchung gegen Pfeuffer und 15 andere wegen Freiheitsberaubung u.a. Delikte
Leo Hiemer, Gabi (1937-1943). Geboren im Allgäu – Ermordet in Auschwitz. Erscheint 2019 im Metropol-Verlag, Berlin.
Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre 1935 (http://www.documentarchiv.de/nsnbgesetze01.html).
Zweite Verordnung zur Durchführung des Gesetzes über die Änderung von Familiennamen und Vornamen (§ 13 des Gesetzes über die Änderung von Familiennamen und Vornamen vom 5. Januar 1938) (http://www.documentarchiv.de/ns/1938/juedische-namen_vo02.html).
Irene Eckler (Hg.), A family torn apart by „Rassenschande“, Schwetzingen 1998 (http://www.fasena.de/courage/deutsch/index.htm).