Rudolf Farnbacher

Geboren:
01.03.1925, Augsburg
Gestorben:
Todestag nicht bekannt, London (England)

Wohnorte

Augsburg, Hochfeldstraße 31
Otterden, Kent (England)
Birmingham (England)
London (England)

Letzter freiwilliger Wohnort

Erinnerungszeichen

Am 30. Juni 2022 wurde ein Erinnerungsband für die Familie Farnbacher in der Hochfeldstraße 31 angebracht.

Biografie
Rudolf Farnbacher, um 1945. (© JMAS/Sammlung Gernot Römer)

Rudolf Farnbacher wird am 1. März 1925, wie auch sein Zwillingsbruder Ernst, in Augsburg geboren. Die Eltern sind Frieda Farnbacher, geborene Reis, die ursprünglich aus München stammt, und der Augsburger Großkaufmann Fritz Farnbacher.1 Fritz Farnbacher ist Mitinhaber der alteingesessenen Spielwarengroßhandlung „Wernecker & Farnbacher, Kurz-, Galanteriewaren- und Spielzeughandlung“ in der Herman­straße 11.2 Die Mutter, eine gelernte Kindererzieherin, ist kulturell interessiert, nimmt Unterrichtsstunden in Französisch und besucht Veranstaltungen zur Kunstgeschichte.3 Die bereits 1919 geborene Schwester Gertrud besucht das Maria-Theresia-Gymnasium.4

Die Familie wohnt in der Hochfeld­straße 31 in Augsburg. Das Haus hatte sie wenige Wochen vor der Geburt der Brüder erworben. Rudolf wird als „nachdenklich“, „sensibel“ und „weniger technisch interessiert“ beschrieben. Sein Bruder Ernst zeigt dagegen technisches Interesse, mag es, Dinge mit seinen Händen herzustellen. Die Brüder wachsen in einer behüteten Umgebung auf und verbringen viel Zeit mit und bei ihren Großeltern.5

Obwohl sportlich, wie die Schwester berichtet, wohl eher nicht mit beeindruckenden Talenten ausgestattet, verbringen Rudolf und Ernst viel Zeit auf dem Sportplatz der jüdischen Gemeinde.6 Als es im Rahmen der nationalsozialistischen Arisie­rung 1938 zum Zwangsverkauf des väterlichen Unternehmens kommt und das repräsentative Geschäftshaus in der Hermanstraße mit den darüber liegenden Wohnungen in die Hände der Nationalsozialisten fällt, sind die Brüder gerade dreizehn Jahre alt.7

Flucht aus Deutschland und ein völliger Neubeginn werden nun für die Familie zum erklärten Ziel. Gertrud, schon fast zwanzigjährig, kann ihre während einiger längerer Auslands­aufenthalte geschlosse­nen Beziehungen nutzen und flieht nach der Reichspogrom­nacht vom 9. November 1938 zu einer Freundin nach Großbritannien. Dort wird sie als Dienst­mädchen angestellt.8

Ein Jahr später, 1939, wird Vater Fritz, gemeinsam mit seinem Bruder Otto festgenommen und für mehrere Wochen im Gestapo-Gefängnis „Katzenstadel“ festgehalten.9 Da eine gemeinsame Ausreise immer unwahrscheinlicher wird, organisiert Gertrud – weinend und in der zuständigen Behörde in England um die letzten Plätze bettelnd – die Flucht ihrer Brüder mit den „Kindertransporten“ nach England.10 Als zwei von insgesamt 10.000 Kindern, denen mittels der Kindertransporte von 1938 bis 1939 die Flucht über die Niederlande nach England ermöglicht wurde11 , gelingt es den Zwillingen somit, haarscharf am 23. August 1939 Deutschland zu verlassen – nur eine Woche, ehe der letzte Kindertransport aus Deutschland abgeht; am 3. September tritt England in den Krieg gegen Deutschland ein.12 Ihre Eltern sehen die Zwillinge nie wieder.

Mit nur rudimentären Sprachkenntnissen ausge­stattet, kommen Rudolf und Ernst 14-jährig, absolut mittellos, ohne soziale Bezugspunkte und ohne Vorstellungen über ihre Zukunft in Großbritannien an. Ungewiss ist die Situation der Eltern, als schweres Joch lastet die Angst um Vater und Mutter auf den Schultern der Kinder. Der älteren Schwester, die ihren Arbeitsplatz mehrmals wechseln muss, ist es aus finanziellen Gründen nicht einmal möglich, ihre Brüder am Bahnhof abzuholen; erst 1940 kommt es zu einem Wiedersehen.13

Glückliche Umstände ermöglichen es den Zwillingen nach ihrer Ankunft in England, gemein­sam für knapp zwei Jahre ein Landinternat in Kent zu besuchen. Vermutlich handelt es sich dabei um das Internat „New Herrlingen“, das von der Ulmer Reformpädagogin Anna Essinger geleitet wird.14 Nach dem Ende der Schulzeit trennen sich die Wege der Zwillinge. Während Rudolf eine Bäckerlehre in Birmingham beginnt, besucht Ernst in Leeds eine ORT-Einrichtung, in der jüdische Jugendliche auf ein praktisch orientiertes Leben in Israel vorbereitet werden sollen.15

Bald darauf – wahrscheinlich am 12. Mai 1941 – nimmt sich Ernst Farnbacher das Leben. Zum damaligen Zeitpunkt ist er noch keine 18 Jahre alt.16 Die Beerdigung zu besuchen, ist den in England verstreut lebenden Geschwistern aus finanziellen Gründen unmöglich.17

Rudolf zieht nach London und arbeitet als Bäcker. Dann beginnt er eine Ausbildung in einer Chemiefabrik. Zusätzlich besucht er die Abendschule. Rudolf und seine Schwester Gertrud ziehen zusammen mit anderen jungen Leuten in eine gemeinsame Wohnung. Als dessen Eigentümer, der im Krieg aus London evakuiert worden war, zurückkommt, trennen sich die Wege der Geschwister wieder. Rudolf zieht in ein möbliertes Zimmer.18 1946 oder 1947 beendet auch Rudolf sein Leben.19

Angehörige
Fußnoten
  1. Gernot Römer (Hg.), „An meine Gemeinde in der Zerstreuung.“ Die Rundbriefe des Augsburger Rabbiners Ernst Jacob 1941–1949 (Material zur Geschichte des Bayerischen Schwaben, Bd. 29), Augsburg 2007, S. 219ff.
  2. Ebd., S. 220.
  3. Slg. Rö. 6, Korrespondenz vom 21.10.1995.
  4. http://www.datenmatrix.de/projekte/hdbg/spurensuche/index_extern.html (aufgerufen am 17.11.2015). Gertrud studiert später an der London School of Economics, geht 1951 in die USA und heiratet 1955, seitdem heißt sie Karen G. Hillman.
  5. Gernot Römer, In der Fremde leben meine Kinder, Augsburg 1996, S. 48f; Slg. Rö. 6, Korrespondenz vom 21.10.1995.
  6. Slg. Rö. 6, Korrespondenz vom 21.10.1995.
  7. StAA, AG Augsburg VI 629,630/49, Wiedergutmachungsakt. Siehe auch Angela Bachmair, „Wie Nazis in Augsburg jüdischen Bürgern Eigentum stahlen“, Augsburger Allgemeine, 12. Nov. 2012, sowie Winfried Nerdinger (Hrsg.), Bauten erinnern: Augsburg in der NS-Zeit, Berlin 2012, S. 196.
  8. http://www.datenmatrix.de/projekte/hdbg/spurensuche/index_extern.html (aufgerufen am 17.11.2015); Gernot Römer (1996), S. 48ff.
  9. Slg. Rö. 6, Korrespondenz vom 21.10.1995.
  10. Gernot Römer (1996), S. 48.
  11. Siehe hierzu Wolfgang Benz u.a. (Hg.), Die Kindertransporte 1938/39. Rettung und Integration, Frankfurt am Main 2003; Claudia Curio, Verfolgung, Flucht, Rettung. Die Kindertransporte 1938/39 nach Großbritannien, Berlin 2006; Rebekka Göpfert, Der jüdische Kindertransport von Deutschland nach England 1938/39. Geschichte und Erinnerung, Frankfurt am Main, New York 1999.
  12. Slg. Rö. 6, Korrespondenz vom 21.10.1995.
  13. Slg. Rö. 6, Korrespondenz vom 21.10.1995; Gernot Römer (1996), S. 48.
  14. Slg. Rö. 6, Korrespondenz vom 21.10.1995. Zu Anna Essinger siehe auch http://www.aer.ul.schule-bw.de/index.php/schulgeschichte/anna-essinger (aufgerufen am 20.11.2015).
  15. Slg. Rö. 6, Korrespondenz vom 21.10.1995; Gernot Römer (1996), S. 49f. Siehe auch http://www.thejc.com/community/community-life/36118/old-boys-remember-leeds-school sowie http://ortuk.org/about-us/history (beide aufgerufen am 20.11.2015). Die Abkürzung ORT steht für „Organization for Rehabilitation through Training“.
  16. Dieses Datum stammt aus den Unterlagen der Leeds Hill Top Cemeteries: http://www.jewishgen.org/jcr-uk/community/leeds/cemeteries/hill%20top%20cemeteries/burial_992.htm (aufgerufen am 20.11.2015). In der Korrespondenz, die Gernot Römer mit Karen G. Hillman geführt hat, werden 1941 und 1942 als mögliche Todesjahre angegeben, siehe: Slg. Rö. 6, Korrespondenz vom 21.10.1995.
  17. Gernot Römer (1996), S. 49.
  18. Ebd., S. 49f.
  19. Zu den unterschiedlichen Angaben siehe: Gernot Römer (2007), S. 221.
Quellen- und Literaturverzeichnis
Internet:
Literatur:

Wolfgang Benz u.a. (Hg.), Die Kindertransporte 1938/39. Rettung und Integration, Frankfurt am Main 2003.

Claudia Curio, Verfolgung, Flucht, Rettung. Die Kindertransporte 1938/39 nach Großbritannien, Berlin 2006.

Rebekka Göpfert, Der jüdische Kindertransport von Deutschland nach England 1938/39. Geschichte und Erinnerung, Frankfurt am Main, New York 1999.

Gernot Römer, In der Fremde leben meine Kinder, Augsburg 1996.

Gernot Römer (Hg.), „An meine Gemeinde in der Zerstreuung.“ Die Rundbriefe des Augsburger Rabbiners Ernst Jacob 1941–1949 (Material zur Geschichte des Bayerischen Schwaben, Bd. 29), Augsburg 2007.