Hirblingen
Gesundheitsamt Augsburg
Erbgesundheitsgericht Augsburg
Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren
Städtisches Krankenhaus Augsburg
Für Rosa Deisenhofer wurde am 19. Juli 2022 in Hirblingen ein Stolperstein verlegt.
Rosa Deisenhofer ist am 30. Juli 1907 in Hirblingen geboren.1 Sie ist die Tochter von Martin (1863–1939) und Theresia Deisenhofer, geb. Förg aus Gessertshausen (1873–1933). Die Familie wohnt im Haus Nr. 32 in Hirblingen. Rosa hat 11 Geschwister, von denen 7 im Kindesalter versterben.
Drei Brüder und eine Schwester überleben.2 Ihre Brüder Franz (1913-1942) und Johann Deisenhofer (1912-1943) fallen im II. Weltkrieg in Russland3 Der älteste Bruder Andreas4 (1901-1980) übernimmt und bewirtschaftet den Bauernhof des Vaters.5 Ihre Schwester Maria ist zwei Jahre jünger als sie und heiratet 1939 in Hirblingen Leonhard Kienzle.6 Ein Bild, das wir von den Angehörigen erhalten haben, zeigt die beiden attraktiven Schwestern.
Seit dem 1.5.1913 geht Rosa in die Volksschule in Hirblingen. Mit 7 Jahren erleidet sie epileptische Anfälle, die 10 bis 15 Minuten andauern. In den Anfangsklassen hat sie in der Schule richtig ordentliche Noten.7
Ab 1915 werden die Anfälle häufiger. 49 Mal muss sie im Schuljahr dem Unterricht fernbleiben. Das beeinträchtigt ihre Leistungen erheblich. Nach der 4. Klasse verlässt Rosa die Volksschule Hirblingen und kommt ab dem 1. Juli 1916 ins Schutzengelheim nach Lautrach. Dort erreicht sie das Ziel der Oberstufe, „ist aber eine wenig leistungsfähige Schülerin“.8 Die Anfälle nehmen an Intensität und Häufigkeit zu. Bewusstseinsstörungen, Schäumen vor dem Mund, Zungenbisse, Blauwerden, Einnässen und Muskelzerrungen sind die Folge. Darauf folgen starke Kopfschmerzen, sie kann sich nicht mehr konzentrieren. Infolge ihrer Erkrankung ist Rosa nervös, zerfahren und unruhig. Sie wirkt angesichts der stets zu erwartenden Anfälle besinnlich und ängstlich. Die Eltern scheuen keine Mühen und Kosten, aber alle Heilversuche erweisen sich erfolglos.9 Nach Ende der Schulausbildung in Lautrach 1923 nehmen die Eltern ihr Kind wieder zu sich in Obhut. Sie hilft im Haushalt und ist enorm tüchtig. Einen Beruf erlernt sie nicht. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war es allgemein üblich, dass Frauen eine tragende Rolle im Haushalt übernahmen, auf dem Land war dies sogar die Regel.
1935 beantragt der Bezirksarzt beim Gesundheitsamt Augsburg die Unfruchtbarmachung der mittlerweile 27-jährigen Rosa Deisenhofer. Grundlage hierfür ist das von den Nationalsozialisten am 14. Juli 1933 erlassene Gesetz zur Verhinderung erbkranken Nachwuchses.10 Dort heißt es unter § 1:
(1) Wer erbkrank ist, kann durch chirurgischen Eingriff unfruchtbar gemacht (sterilisiert) werden, wenn nach den Erfahrungen der ärztlichen Wissenschaft mit großer Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist, dass seine Nachkommen an schweren körperlichen oder geistigen Erbschäden leiden werden.
(2) Erbkrank im Sinne dieses Gesetzes ist, wer an einer der folgenden Krankheiten leidet:
(3) Ferner kann unfruchtbar gemacht werden, wer an schwerem Alkoholismus leidet11 .
Demaskierend ist die Begründung dieses Gesetzes, offenbart sie doch den rassistischen Wahn des NS-Unrechtssystems: „Der fortschreitende Verlust wertvoller Erbmasse muss eine schwere Entartung aller Kulturvölker zur Folge haben. Von weiten Kreisen wird heute die Forderung gestellt, durch Erlass eines Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses das biologisch minderwertige Erbgut auszuschalten. So soll die Unfruchtbarmachung eine allmähliche Reinigung des Volkskörpers und die Ausmerzung von krankhaften Erbanlagen bewirken.“ 12
Nachdem der Amtsarzt erbliche Fallsucht festgestellt hat, ergeht durch das Erbgesundheitsgericht Augsburg am 30. Oktober 1934 unter dem Vorsitz von Amtsrichter Anhäusser, Obermedizinalrat Dr. Steidle und dem Kinderarzt Dr. Wilhelm Mayr der Beschluss, Rosa Deisenhofer unfruchtbar zu machen.13 Als Begründung nimmt das Gericht Bezug auf das Gutachten des Amtsarztes. Demzufolge sei erbliche Fallsucht erwiesen, äußere Umstände für das Bestehen der Krankheit seien demnach auszuschließen.14
Mit Recht ist darauf hingewiesen worden, dass die Frage der Erblichkeit einer bestimmten Erkrankung oder Einschränkung sich in den 1930-er und 1940-er Jahren kaum beantworten ließ, stand doch eine genetische Diagnostik damals noch nicht zur Verfügung.15 .
Gegen das Gerichtsurteil wehren sich der Vater und der älteste Sohn Andreas vehement, die Mutter ist 1933 verstorben.16 Sie beauftragen Rechtsreferendar Hans Gaugenrieder mit einem Einspruch.
Dieser deckt die Schwächen des Gesetzes und dessen Anwendung schonungslos auf. Die Epilepsie der Rosa sei weder angeboren noch vererbt. Gemäß dem Sanitätsarzt Dr. Bayer handle es sich bei Rosa um hystero-epileptische Anfälle. Sie habe in frühen Jahren Gichter gehabt. Die epileptischen Anfälle seien später erfolgt. Es handle sich aber um keine hereditäre Belastung, keiner der Verwandten der Rosa sei je an Epilepsie erkrankt. Das Gericht habe keinen Beweis der Erblichkeit der Krankheit vorgelegt:
„Unbegreiflicher weise leugnet die Begründung des angefochtenen Beschlusses die äußeren Ursachen, ohne die Angeborenheit irgendwie nachzuweisen. In eigenartiger Logik wird aus der für das Gericht nicht bestehenden Nichterkennbarkeit von äußeren Ursachen […] auf die Gewissheit einer Angeborenheit geschlossen, ohne dass für diese irgendwelche Anhaltspunkte, ja im Gegenteil ein gegenteiliges Gutachten des Hausarztes vorliegt.“
Hans Gaugenrieder fordert, der Beschluss zur Unfruchtbarmachung sei daher aufzuheben.17
Mit dem Einspruch wird der Prozess automatisch an das Erbgesundheitsobergericht in München weitergeleitet. Dieses verfügt die Beobachtung der Patientin Rosa Deisenhofer in der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren vom 9. bis 18. April 1935 und erbittet ein Gutachten des dortigen Assistenzarztes Dr. Salm. Dieser konstatiert eine verlangsamte Auffassungsgabe und geistige Schwerfälligkeit der Patientin. Auf der Station sei sie unermüdlich bei der Arbeit.
Sie sei still, freundlich, bescheiden und zugänglich, anderseits aber schwerfällig im Denken und unbeholfen im Urteil. In Kaufbeuren erleidet sie 3 Anfälle, an die sie sich aber nicht erinnern kann. Dr. Salm schließt Hystero-Epilepsie und Residualepilepsie aus und schlussfolgert daraus, ohne es belegen zu können, dass Rosa an erblicher Fallsucht leide. Hierfür sprächen die wiederkehrenden Anfälle als auch die Charakterveränderungen der Patientin sowie die „allgemein eingeengte Persönlichkeit“ der Patientin.18
Das Erbgesundheitsobergericht in München verfügt auf dieser Basis unter Vorsitz des Oberlandesgerichtsrat Gres, des Obermedizinalrat Prof. Dr. Merkel und des Universitätsprof. Dr. Rüdin am 5. Juni 1935, den Einspruch des Gerichtsreferendars Hans Gaugenrieder gegen das Urteil des Erbgesundheitsgerichts Augsburg als unbegründet zurückzuweisen. Rosa leide an angeborener Epilepsie, diese sei nicht durch äußere Umstände verursacht. Die 3 Anfälle in Kaufbeuren seien „im Verlauf und Wesen nach einwandfrei epileptischer Art“. Infolge des wissenschaftlich begründeten Zeugnisses sei eine Zeugeneinvernehmung von Dr. Bayer und der Verwandten nicht erforderlich. Das Erbgesundheitsobergericht schließe sich dem Gutachten aus Kaufbeuren an: „Bei Rosa Deisenhofer liegt also die Erbkrankheit §1 Abs. II Nr. 4 des Gesetzes vor. Die Kranke steht im fortpflanzungsfähigen Alter, es ist daher die Gefahr der Entstehung eines Nachwuchses gegeben, der nach den Erfahrungen der ärztlichen Wissenschaft mit großer Wahrscheinlichkeit an schweren körperlichen oder geistigen Erbschäden leiden würde. Deshalb musste dem angefochtenen Beschluss beigetreten und daher die Beschwerde, wie geschehen, als unbegründet zurückgewiesen werden“.19
Rosa Deisenhofer wird am 6. September 1935 im Städtischen Krankenhaus Augsburg „unfruchtbar gemacht“ und erst 3 Wochen später, am 26. September aus dem Krankenhaus entlassen. Wir müssen annehmen, dass es bei dem Eingriff zu Komplikationen gekommen ist.20
Rosa Deisenhofer verstirbt am 19. Mai 1943 in Hirblingen als gedemütigte Frau. Das nationalsozialistische Terrorregime hat nicht einmal vor der intimsten Sphäre Halt gemacht.
Infolge des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses werden viele Menschen zwangssterilisiert, die körperlich vollkommen gesund sind. Das Gesetz gerät weitgehend zu einem Instrument der Disziplinierung und Verfolgung von "rassisch Entarteten" bzw. "Gemeinschaftsfremden", von "Asozialen" nach dem Verständnis der rassistisch geprägten Volksgemeinschaftsideologie.21
Diagnosen wie "Geistesschwäche", "Schizophrenie" oder "schwerer Alkoholismus" lassen erhebliche Interpretationsspielräume zu. Zudem erfinden die Nazis weitere Merkmale wie "moralischer Schwachsinn" bzw. "sozialer Schwachsinn". Diese Terminologie zielt auf Großfamilien der Unterschichten, ledige Mütter, lernbehinderte Kinder, Bettler, Wohnungslose, Fürsorgezöglinge und Vorbestrafte.22
Während der NS-Herrschaft werden ungefähr 400.000 Kinder, Jugendliche und Erwachsene zwangssterilisiert. Infolge der Eingriffe sterben 5.000 Menschen, zu 90 Prozent weibliche Personen. Etwa tausend Menschen haben sich selbst getötet.23
Die Gruppe der Zwangssterilisierten wird noch 1961 aufgrund von Expertenanhörungen von Wiedergutmachungszahlungen ausgeschlossen. Von den 7 eingeladenen Gutachtern sind 3 NS-Täter, Eugeniker und „Rassehygieniker“. Ab 1980 dürfen Geschädigte eine Einmalzahlung infolge des Allgemeinen Kriegsfolgengesetzes beantragen, ab 1988 eine laufende Beihilfe. Erst 1998 werden die Erbgesundheitsbeschlüsse per Gesetz aufgehoben, 2007 durch den Deutschen Bundestag geächtet. Zwangssterilisierte und Euthanasie-Geschädigte werden 62 Jahre nach Kriegsende gesellschaftlich rehabilitiert. Seit 2011 erhalten Zwangssterilisierte monatlich 291 Euro. Im Januar 2018 leben noch 103 entschädigungsberechtigte Zwangssterilisierte, die eine monatliche Zahlung von jeweils 352 Euro erhalten.24
Opferbiografie erstellt von Dr. Bernhard Lehmann StD, Gegen Vergessen – Für Demokratie RAG Augsburg-Schwaben 86368 Gersthofen Haydnstr. 53
2020
Staatsarchiv Augsburg (StAA)
– Gesundheitsamt Sterilisationsakte Nr. 297/94 Rosa Deisenhofer
Stadtarchiv Gersthofen (StadtAGerst)
– Geburtenbuch Hirblingen 5/1907
– Geburtenbuch Hirblingen
– Sterbebuch Hirblingen
– Sterbebuch Hirblingen 1933
Initiativkreis Stolpersteine für Augsburg und Umgebung
(https://stolpersteine-augsburg.de/)
– Foto: Stolperstein
Julia Hörath, „Asoziale“ und „Berufsverbrecher“ in den Konzentrationslagern 1933-1938; Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Band 222, Göttingen 2017.
Stefanie Westermann, „Ein Mensch, der keine Würde mehr hat, bedeutet auf dieser Welt nichts mehr“. Zwangssterilisierte Menschen in der Bundesrepublik Deutschland, in: Margret Hamm (Hg.): Ausgegrenzt! Warum? Zwangssterilisierte und Geschädigte der NS-„Euthanasie“ in der Bundesrepublik Deutschland; Berlin 2017, S. 23-40.