Batzenhofen, Schmutterstraße 6
Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren
Mordanstalt Grafeneck
Josef Heim ist am 30. Juli 1908 in Batzenhofen geboren.1 Er ist der Sohn des Söldners Josef Heim2 und der Meitinger Dienstmagd Maria Heim geb. Mayer3 , die am 15. Februar 1904 geheiratet haben. Maria bringt ihre Tochter Anna, geb. am 23.4.1900, mit in die Ehe.4
Josef hat eine ältere Schwester Lena, die am 1. Januar 1905 geboren ist5 , und eine Schwester Maria, die am 11. April 1911 auf die Welt kommt und nach zwei Tagen verstirbt. Die Mutter Maria Heim verstirbt an den Folgen der Geburt 10 Tage später.6
Nach dem Verlust seiner Ehefrau und Tochter binnen kürzester Zeit heiratet Vater Josef Heim daraufhin am 3. September 1911 die aus Horgauergreuth stammende Dienstmagd Maria Steinbacher.7 Die muss von nun an die verbleibenden drei Kinder Anna, Lena und Josef jun. aufziehen.
Aus dieser Ehe gehen weitere Kinder hervor. Pius Heim, der um vier Jahre jüngerer Stiefbruder8 von Josef, ist am 11. Juli 1912, seine Stiefschwester Maria am 14. Januar 1915 geboren.9 Die Familie wohnt im Haus Nr. 3710 , der heutigen Schmutterstraße 6. Zu dieser Zeit aber befindet sich der Vater Josef Heim im I. Weltkrieg, aus dem er nicht zurückkehrt. Er fällt 1916 an der Front.11
Über die Schul- und Berufsausbildung seines Sohnes Josef ist uns nichts bekannt. Die 93-jährige Nichte von Josef berichtet, dass dieser 3-4-mal im Jahr auf Besuch zu seiner Halbschwester nach Gablingen gekommen sei. Wie zahllose andere Arbeiter in der Weltwirtschaftskrise und den folgenden Jahren muss Josef seine Arbeitskraft als Dienstknecht überall anbieten. Einen ordentlichen Beruf hat er nicht erlernt. Wie seine Halbschwester Anna ihrer Tochter Maria erzählt, war Josef „geistig nicht ganz auf der Höhe“. Den neun Kindern seiner Halbschwester wird er als Onkel Josef vorgestellt und ist bei diesen überaus beliebt. Vom Erscheinungsbild her war Josef hager, wenig robust, ca. 1,70 m groß, hat eine feste Stimme und glattes dunkles Haar, insgesamt eine stattliche Erscheinung.12 Im Anschluss an seine Besuche in Gablingen bei der Halbschwester Anna besucht er regelmäßig seine Halbgeschwister aus der zweiten Ehe seines Vaters in Batzenhofen, Pius und Maria.13
Am 13. Juni 1935 wird Josef im Alter von 26 Jahren in die Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren eingewiesen. Als sein Beruf wird in Kaufbeuren „Dienstknecht“ eingetragen. Zu dieser Zeit hat er keinen festen Wohnsitz mehr, die Eltern sind verstorben. Josef Heim kommt direkt aus dem Zuchthaus/Arbeitshaus Straubing.14
Über die Gründe können wir nur Vermutungen anstellen.15 Gegen Kleinkriminelle, Obdachlose, Wanderarbeiter, Alkoholiker und Bettler gehen die Nationalsozialisten von Anfang an erbarmungslos vor. Sie gelten als sog. „Asoziale“ und „Gewohnheitsverbrecher“, gegen welche die Nazis ab 24. November 1933 „Maßnahmen der Sicherung und Besserung“ ins deutsche Strafrecht einführen.16 Die Novelle wird unter § 42e in das RStGB eingefügt.17 Neben der dort verankerten „Sicherheitsverwahrung“ sind jetzt die Zwangsunterbringung in Heil-und Pflegeanstalten, Trinkerheilanstalten, Entziehungsanstalten und Arbeitshäusern, die Untersagung der Berufsausbildung, die Reichsverweisung und die „Entmannung“ „gefährlicher Sittlichkeitsverbrecher“ möglich.18
Fortan können die Gerichte Angeklagte, die sie nach § 351 RStGB wegen Bettelei, Landstreicherei, Verwahrlosung, „Arbeitsscheu“, Obdachlosigkeit oder Prostitution verurteilt haben, im Anschluss an die Strafhaft direkt in ein Arbeitshaus einweisen, um die Betroffenen „zur Arbeit anzuhalten und an ein gesetzmäßiges und geordnetes Leben zu gewöhnen.“19
Vermutlich wurde Josef Heim als Wanderarbeiter mehrfach aufgegriffen, verhaftet und auf diese Weise kriminalisiert. Nach verbüßter „Straftat“ wird Josef Heim demgemäß zur „Sicherungsverwahrung“ in eine Heil- und Pflegeanstalt eingewiesen, ohne dass uns ersichtlich ist, welches delinquente oder deviante Verhalten er sich in den Augen der Nazis schuldig gemacht hat.
Ebenso wenig ist klar, ob überhaupt eine schwere psychotische Erkrankung Josefs vorgelegen hat.
In Kaufbeuren wird Josef Heim das Opfer der Aktion T4. Zum Programm der Aktion T4 gehörte es von Anfang an, auch die sicherungsverwahrten Patienten zu ermorden, also Menschen, die als Straftäter verurteilt, aber wegen voller oder teilweiser Unzurechnungsfähigkeit in die Psychiatrie eingewiesen worden waren.20 Ganz auffällig sind die Verlegungen von Straubing nach Kaufbeuren am 20.11.1940. 14 Personen aus Straubing werden an diesem Tag nach Kaufbeuren verlegt, die dann allesamt, gemeinsam mit 25 Patienten aus Ursberg (sie kamen am 19.11.1940 nach Kaufbeuren) am 4.6.1941 zur Vergasung mit den Grauen Bussen nach Hartheim verbracht werden.21
Der Form der „Selektion lebensunwürdigen Lebens“ gehen umfangreiche Planungen voraus. Am 9.10.1939 werden vom Leiter der Abteilung IV des Reichsministerium des Inneren, Leonardo Conti, die in Frage kommenden Heil- und Pflegeanstalten zur Benennung bestimmter Patienten mittels Meldebögen aufgefordert.22 In einem beigefügten Merkblatt sind folgende Kriterien angegeben:
Diese Meldebögen werden über den zuständigen Referenten Herbert Linden im Reichsministerium des Inneren an die T4-Zentrale weitergeleitet. Drei „Gutachter“ entscheiden aufgrund der Meldebögen, also nicht aufgrund eigener Untersuchungen, über Tod oder Weiterleben der Patienten.24
Wir können, ja müssen annehmen, dass Josef Heim in die „Kategorie“ der „kriminellen Geisteskranken“ fiel. Am 26. August 1940 jedenfalls wird Josef Heim mit 74 weiteren Personen aus Kaufbeuren zur Ermordung in die Tötungsanstalt Grafeneck überführt.25
Unter ihnen befanden sich folgende Männer aus Augsburg und Umgebung:
Birkmeyer, Friedrich Peter, geb. 4.3.1879 (letzter Wohnort Augsburg); Bissinger Max, geb. 17.4.1886 geb. in Affing, letzter Wohnort Augsburg; Bressgott, Georg, geb. 3.9.1879; Bröckel, Georg, geb. 27.11.1890 in Kaisheim, letzter Wohnort Augsburg; Einberger, Franz, geb. 7.8.1903; Fleischmann Ludwig, 20.6.1884; Geh, David, geb. 19.07.1892; Gruber, Leonhard, geb. 18.1.1902; Hank Paul, geb. in Königsbrunn, 2.3.1908; Heiland Josef, geb. 3.3.1894 in Röthenbachaus; Heumoos, Friedrich, geb. 20.3.1903 in Kempten; Hirsch, Otto, geb. 20.12.1880 in A, wh. in Garmisch, israel.; Hummel, Wilhelm, geb. 10.7.1907 Blumenau; Kautzer, Adolf, geb. 17.6.1895; Keis, Johann, geb. 13.12.1901 in A, wh. Lindau; Klopfer, Otto, geb. 30.12.1892 in Kulmbach; Munk, Rudolf, geb. 29.8.1892 in A; Nett, Josef, geb. 11.3.1899 in Engetried; Nickel, Wilhelm, geb. 28.4.1872 in Kitzingen; Oberndorfer Wilhelm, geb. 28.9.1881; Peter, Otto, geb. 14.11.1889; Renner, Heinrich, geb. 19.7.1880; Rosenberger, Johann, geb. 17.2.1875; Rosenstiel, Eduard, geb. 7.5.1895 in Mindelheim, israel.; Rothschild, Adolf, geb. 7.6.1873, israel.; Rottner, Nikolaus, geb. 9.10.1895; Schneider, Wilhelm, geb. 2.2.1899; Seefried, Wendelin, geb. 21.11.1895 in Wemding; Seidl, Mas, geb. 22.3.1895 in Riedenburg; Seifert, Georg, geb. 5.11.1909 in Bruck; Wiedemann, Andreas, geb. 12.11.1901 in Gaisbach.
Im Stadtarchiv Gersthofen ist als Sterbedatum von Josef Heim der 5. September 1940 angegeben.26 Selbst dieses Datum ist fingiert. In sämtlichen Tötungsanstalten befanden sich Standesämter, welche nur dem Zwecke dienten, die Todesursache und das Sterbedatum zu fingieren, um angesichts der Massenmorde die Todesumstände zu verschleiern.27
Zumeist wird an die Angehörigen zusammen mit der Todesurkunde ein Beileidsschreiben verschickt, dessen Einheitswortlaut besagt, dass der Tod für den Betreffenden eine Erlösung dargestellt habe.28 Im Fall von Sebastian Zacher aus Gersthofen ist uns ein solches Schreiben erhalten.29 Um die Massenmorde geheim zu halten, findet sogar häufig ein Aktenaustausch zwischen den Tötungsanstalten statt. Todesurkunden und Beileidsschreiben von in Grafeneck Ermordeten werden demgemäß aus Brandenburg, Sonnenstein/Pirna oder Hartheim bei Linz verschickt.
Die Täter von Grafeneck finden sich in den Vernichtungszentren des Holocaust wieder. Dr. Horst Schuhmann (1906-1983), der erste Leiter und ärztliche Direktor von Grafeneck, ist ab Herbst 1942 Lagerarzt in Auschwitz und selektiert an der Rampe von Birkenau Menschen für grausame, oftmals tödliche Röntgensterilisationsversuche.30 Dr. Christian Wirth (1885-1944), bis 1939 Kriminalkommissar in Stuttgart, steigt zum Inspekteur aller sechs Vernichtungsanstalten der Aktion T 4, zum Polizeimajor und SS-Sturmbannführer auf.31 Dann wirkt er an der „Endlösung“ der Judenfrage, der Ermordung der europäischen Juden mit. Im Rahmen der „Aktion Reinhard“ leitet Wirth den Aufbau des Vernichtungslagers Belzec, wird später dessen erster Kommandant und ab 1. August 1942 zum Inspekteur der Vernichtungslager Belzec, Treblinka und Sobibor ernannt. Nach heutigem Wissensstand sind dort 1,75 Millionen Menschen ermordet worden.32
Josef Heim wird am 26. August 1940 im Alter von 32 Jahren von den Nazischergen auf grausame Weise in der Tötungsanstalt Grafeneck mit Gas ermordet.33
Bei der Aktion T 4 werden insgesamt 70.273 Menschen ermordet. Die sechs mit Gaskammern und Krematorien ausgestatteten Mordzentren waren34 :
Grafeneck bei Reutlingen:
Jan.-Dez. 1940: 9.839 Ermordete
Brandenburg an der Havel:
Feb.-Sept. 1940: 9.772 Ermordete
Bernburg an der Saale:
Okt. 1940 – Aug. 1941: 8.601 Ermordete
Hadamar, Nordhessen:
Jan. – Aug. 1941: 10.072 Ermordete
Hartheim bei Linz:
Mai 1940 – Aug. 1941: 18.269 Ermordete
Sonnenstein bei Pirna:
Juni 1940 – Aug. 1941: 13.720 Ermordete
Insgesamt: 70.273 Ermordete
© Biografie erstellt von Dr. Bernhard Lehmann, StD i.R; Gegen Vergessen – Für Demokratie RAG Augsburg-Schwaben bernhard.lehmann@gmx.de, alle Rechte beim Autor
2019, ergänzt 2021
Stadtarchiv Gersthofen, Geburtenbuch Batzenhofen Nr. 8/1908
Hist. Archiv BKH Kaufbeuren, Standbücher Zu- und Abgänge Männer, 1940
Hist. Archiv BKH Kaufbeuren, Heim Josef, Nr. 10118 Karteikarte
Staatsarchiv Landshut
Interview mit Maria Mauerer am 4.3.2021
Götz Aly, Die Belasteten. „Euthanasie“ 1939-1945. Eine Gesellschaftsgeschichte; Frankfurt 2014
Michael Burleigh (Hrsg.): Tod und Erlösung. Euthanasie in Deutschland 1900-1945, Zürich 2002
Ernst Klee (Hrsg.) Dokumente zur „Euthanasie“. Frankfurt/Main 1985