Gersthofen, Augsburger Straße 45
Gersthofen, Ludwig-Hermann-Straße 35
München, Garmischer Straße
Gersthofen
München
KZ Dachau
KZ Buchenwald
Georg Kottmair geht nach Absolvierung der Volksschule und seiner Ausbildung als Zimmermannsgeselle 1928 im Alter von 19 Jahren auf die Walz. Seine Mutter Walburga Kottmair, geb. Probst sieht er nicht mehr wieder, sie verstirbt noch vor seiner Rückkehr im Alter von 51 Jahren.1 Sein Vater Alois Kottmair arbeitet bei den Farbwerken Hoechst in Gersthofen.2 Er verstirbt ein Jahr nach seiner Frau.
Georg ist dank seines Berufes kräftig gebaut, hat blonde Haare und blau-grüne Augen. Auf der Walz nimmt er verschiedene Stellungen an, z.B. in Eichenbühl und Berlin. Von dort kehrt er am 8.10.1930 nach Hause zurück.3 Er wohnt anfangs bei seinem Vater in der Augsburger Straße 45; nach dessen Tod im Alter von 57 Jahren4 bezieht er ein Zimmer im neuen geräumigen Haus in der Ludwig-Hermann-Straße 35, in dem auch seine drei Schwestern wohnen.5
Die Weltwirtschaftskrise mit der hohen Arbeitslosigkeit dürfte dafür verantwortlich gewesen sein, dass er der KPD beigetreten ist. Von dieser Partei verspricht er sich pragmatische Verbesserungen der wirtschaftlichen Lage der Arbeiter. Hierfür engagiert er sich mit anderen seiner Gersthofer Kumpel und verteilt heimlich Flugblätter gegen das Nazi-Regime. Als die Nazis an die Macht kommen, werden die Kommunisten als erste verhaftet, so auch in Gersthofen.6
Auf seiner Schubliste ist vermerkt: „Kottmair war bis 15.5.1933 flüchtig. Er war Funktionär der KPD, hat die Lehre aus Sowjetrussland nach Gersthofen gebracht und diese mit allen Mitteln zu verbreiten versucht.“7 Bauern verstecken Georg Kottmair vor der 1. Verhaftung, aber er wird verraten und kommt in das seit 1910 bestehende Gersthofer „Haftlokal“ in der Donauwörtherstraße 288 neben der Kirche St. Jakobus. Am 3.6.1933 wird er ins KL Dachau eingewiesen. Erst am 8. März 1935 wird Georg Kottmair aus der Schutzhaft entlassen9 Er hat die Haftnummer 2047. Seine Schwestern schreiben am 27.3.1934 an den Stadtrat Gersthofen einen Brief und bitten diesen um Unterstützung, damit ihr Bruder freikomme, aber vergeblich.10 Georg Kottmair wird erst am 8. März 1935 wieder aus der Schutzhaft entlassen11 , steht aber in Gersthofen permanent unter der Beobachtung der Gestapo12 . Die NSDAP Ortsleitung Gersthofen meldet im Januar 1938 an die Gauleitung 12 Personen, die als Gegner des nationalsozialistischen Regimes anzusehen sind, darunter eben auch Georg Kottmair:
„Die sämtlich aufgeführten Personen stehen politisch nicht auf unserem Boden. Ihre weltanschauliche Einstellung ist dem Nationalsozialismus völlig fern, tun auch nichts dergleichen, sich anzupassen. Sämtliche stehen unter Kontrolle der Gendarmerie und sind auch der Geheimen Staatspolizei gemeldet.13 “*
Als „wehrunwürdig“ wird Georg Kottmair kurz nach Kriegsbeginn am 10.9.1939 von der Stapo Augsburg in das KZ Buchenwald eingeliefert, wo er bis zum 20.4.1942 Zwangsarbeit verrichten muss und auf jede erdenkliche Art erniedrigt und gedemütigt wird.14
Vermutlich wird er anlässlich einer Amnestie zum „Führergeburtstag“ am 20.4.1942 entlassen. Bereits nach einigen Wochen der Rekonvaleszenz kommt Georg Kottmair an die Front nach Polen und die Ukraine. Er gerät in russische Kriegsgefangenschaft und erkrankt nach Angaben seiner Nichte wiederholt an der blutenden Ruhr. In Piesek in der Tschechoslowakei verrichtet er nach Kriegsende für die Rote Armee Zwangsarbeit, ehe er 1946 in die Heimat entlassen wird.15 Bei seiner Rückkehr nach Gersthofen bringt er einen jungen Russen mit, Alexej, ca. 18 Jahre, der von Georgs Schwestern „hochgepäppelt“ wird. Nach Aussagen von Georg Kottmair hat er dem jungen Russen das Leben gerettet.16 1947 tritt er der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes bei.17 Im April 1949 realisiert er seinen Wunsch nach Emigration, den er bereits bei der amerikanischen Besatzungsmacht artikuliert hatte, und zieht nach Frankreich. Er kehrt allerdings bereits am 15. März 1950 wieder zurück. Möglicherweise waren es Sprachprobleme, welche der Ausübung seines Berufes als Zimmermann in Frankreich im Wege standen.18
Georg Kottmair hat drei Schwestern: seine Lieblingsschwester Wally (verh. Führer), Luise (verh. Hölzl) und Anna (verh. Modlmeier). Georg bezieht dort nach der Rückkehr aus dem KZ Dachau wieder sein Zimmer im geräumigen 9-Zimmerhaus in der Ludwig-Hermann-Straße 35.19
In München macht Georg nach dem Krieg die Bekanntschaft von Frau Wenig, die in der Garmischer Straße wohnt. Deren 7 Jahre älterer Mann ist im KZ Buchenwald verstorben und war mit Georg Kottmair befreundet. Mit ihr kann er am ehesten seine Gefühle, Empfindungen, Frustrationen und Ängste austauschen. In ihrem Haus wohnt er ab dem 20.12.1951 bis zu seinem Lebensende.
Von Ende August 1960 bis zum 1. Juni 1961 ist Georg wieder in Gersthofen gemeldet, zeitweise wohnt er bei Anna und Josef Pröll, die ein ähnliches tragisches Schicksal wie er zu erleiden hatten, dann zieht er wieder nach München zurück.20 Dennoch kommt er immer wieder zu den Schwestern, Neffen und Nichten zu Besuch. Er sucht und braucht die menschliche Nähe und Geborgenheit. Wo immer er zu Besuch ist, packt er mit an und ist äußerst hilfsbereit.
Als Kind lauscht Helene heimlich, wenn Georg von seiner Leidenszeit während des Nationalsozialismus erzählt, auch Herrmann Rosenwirth war von den Erzählungen fasziniert. Georg Kottmair besucht dessen Eltern wiederholt in Jesenwang bei Pfaffenhofen.21 Den Weg vom S-Bahnhof Grafrath nach Jesenwang, immerhin 7 ½ km, legt er zu Fuß zurück. An der Freundschaft mit der Familie Rosenwirth liegt ihm definitiv sehr viel.22 Radio hört Georg Kottmair auch nach 1945 nur noch mit Kopfhörer, er hat immer noch Angst, erwischt zu werden.
Seine Nichte Helene Steger, geb. Hölzl berichtet, dass Georg so traumatisiert war, dass er in der Nacht häufig aufschrie und stöhnte. Er wurde mit dem Terror, den er in den Konzentrationslagern erlebt hatte, nicht fertig, auch 40 Jahre später nicht. Obwohl gutaussehend (siehe Bilder), heiratet er nie und hat keine Kinder. Seine Zwangsaufenthalte im Konzentrationslager haben ihn nachhaltig geprägt.
In Gesellschaft ist er humorvoll und lustig, nie „mainstream“, aber er ist auch häufig grüblerisch und introvertiert.23 Auf seine Großnichte Christine wirkt er ein wenig schrullig. Mit ihr verbindet ihn die Liebe zur Natur und den Bergen. Regelmäßig kommt er von München zu Fuß ohne Vorankündigung24 : „Plötzlich stand er einfach da“.
Bei Familienfesten finden sie immer einen gemeinsamen Gesprächsstoff. Aber über die schlimmste Erfahrung in seinem Leben spricht er nie.25 Seine häufig verwendete Redewendung, „ja, ja, so ischs“ lässt auf eine resignative Haltung schließen. Seine Persönlichkeit wird im KZ Dachau und Buchenwald gebrochen, hiervon erholt er sich nie wieder. Auch körperlich ist er durch eine Magenoperation erheblich beeinträchtigt.
Für die mehrjährige Inhaftierung in den KL Dachau und Buchenwald erhält er im Rahmen der sog. „Wiedergutmachung“ eine Entschädigung.26
Am 25.10.1977 wird Georg Kottmair für die VVN-Ehrenmedaille vorgeschlagen27
und erhält diese in einer kleinen Feierstunde. Sein Vermögen stiftet er, offensichtlich bereits von seiner Krankheit beeinflusst, an die SOS-Kinderdörfer.28
In den letzten Lebensjahren erkrankt Georg an Alzheimer.
Kurz vor seinem Ableben besucht ihn seine Lieblingsnichte Helene Steger mit ihrem Ehemann Hermann Steger im Krankenhaus. Georg erkennt die beiden nicht mehr wieder, er schlägt wild um sich und spricht immer wieder zusammenhangslos von seinen Erlebnissen in den Konzentrationslagern. Eine Kommunikation mit ihm ist nicht mehr möglich.29
Am 29.3.1994 ist Georg Kottmair in München verstorben.30 Er wird in einer Urne am Westfriedhof in München beigesetzt.31 Das Grab ist mittlerweile aufgelöst. Georg Kottmair aber ist nicht vergessen.
Opferbiografie erstellt von: Dr. Bernhard Lehmann, StD a.D., 86368 Gersthofen, Haydnstraße 53, Tel. 0821/497856; E-Mail: bernhard.lehmann@gmx.de
2019
KZ Gedenkstätte Dachau
– Brief an Dr. Bernhard Lehmann vom 8.7.2017
Interviews mit Hermann Rosenwirth und Helene Steger am 3.12.2018 und 6.4.2019
ITS Bad Arolsen
– K14201: Allied High Commission for Germany, Bad Arolsen, 17.7.1953
Stadtarchiv Gersthofen (StadtAGerst)
– Auskunft am 24.4.2019
– Meldebogen Georg Kottmair
Staatsarchiv Augsburg (StAA)
– Bestand NSDAP Gau/Schwaben, Kreisleitung Augsburg-Land 1/15
VVN-BdA München
– Auskunft Friedbert Mühldorfer vom 19. Februar 2019
Bildmaterial: Hermann Rosenwirth, Helene Steger und Klaus Modlmeier
Initiativkreis Stolpersteine für Augsburg und Umgebung
(https://stolpersteine-augsburg.de/)
– Foto: Stolperstein