Ernestine Luchs, geb. Wollenreich

Geboren:
07.09.1898, Kaubenheim
Gestorben:
25.11.1941, Kowno/Kaunas

Wohnorte

Kaubenheim
Neustadt an der Aisch, Marktplatz 11
Neustadt an der Aisch, Nürnberger Straße 2
Neustadt an der Aisch, Nürnberger Straße 13
Augsburg, Kaiserstraße 39
Augsburg, Bahnhofstraße 18⅓

Letzter freiwilliger Wohnort

Orte der Verfolgung

Deportation
am 20. November 1941
von München-Milbertshofen
nach Kaunas (Kowno), Litauen

Biografie

Ernestine Wollenreich war am 7.9.1898 in Kaubenheim geboren war. Die Eltern von Ernestine (sie wurde Else oder auch Elsa gerufen) waren Lazarus Wollenreich und Lina, geb. Schönfärber. Sie hatte fünf ältere Geschwister, die ebenfalls in Kaubenheim geboren wurden.

Als Ernestine und ihre Familie nach Neustadt an der Aisch zogen, wohnten sie zusammen mit der unverheirateten Schwester der Mutter im Haus Nr. 134 (Untere Schlossgasse). Ihre Eltern kauften 1909 dann das Haus in der Nürnberger Straße 12. Die älteste Schwester war Betty (1889), die einen Herrn Engel heiratete und am 16.11.1919 nach Berolzheim verzog. Karl Wollenreich (1890) wurde 1934 Vorstand der Kultusgemeinde, die offiziell allerdings bereits nicht mehr existierte. Der Bruder Salomon (1896) emigrierte dann wie Karl in die USA.1 Im Ersten Weltkrieg fielen die beiden Brüder Leo (1892–1918), der schon 1914 mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichnet wurde2 , und Hermann (1893–1918). Ein Kriegerdenkmal auf dem jüdischen Friedhof Diespeck erinnert an die beiden.3

Am 19.1.1926 heiratete sie Eugen Luchs aus Binswangen.4 Nach der Eheschließung wohnte das Paar zur Untermiete am Marktplatz 11 in Neustadt. Am 15.2.1930 zogen sie in die Nürnberger Straße 2 und am 29.7.1934 weiter in die Nürnberger Straße 13. Sie bekamen drei Kinder: Arthur (29.6.1928), Alice Anni (5.9.1931) und Sofie (6.4.1933).5

Ilse Vogel berichtet in ihrem Buch Vom Land in die Stadt: 200 Jahre Judenschaft zu Pahres. 70 Jahre jüdisches Leben in Neustadt an der Aisch Folgendes: „Ein Besucher im Judensäcker erzählte folgende Begebenheit – und offenbar erinnerte er sich jetzt erst wieder daran: Sein Spielkamerad zeigte ihm einmal zu Hause lauter kleine Gegenstände, die er für Spielsachen hielt. Nein, diese Sachen stammen alle aus der Synagoge. „Und wie hieß der Junge?“ – „Luchs, Arthur Luchs.“ Es war die Familie, die bis zum Ende verantwortlich war für das Eigentum der Gemeinde, und Arthur Luchs war gerade zehn Jahre alt bei der Vertreibung aus Neustadt am 10. November 1938.“6

Die Familien Luchs und Wollenreich gehörten zu den letzten Juden, die in Folge der Reichspogromnacht aus der Stadt vertrieben wurden. Lazarus und Mina zogen in die Nürnberger Straße 83 in Fürth und die Familie Luchs zog am 10.11.1938 in die Kaiserstraße 39 in Augsburg.7 Dort wohnte sie bei Verwandten von Eugen. Am 13.2.1939 zogen Else, Eugen und Alice in die Schißlerstraße 39 zur Familie Oppenheimer.8 Weshalb sich die Familie trennte oder trennen musste, ist nicht bekannt. Für Arthur lässt sich ein Eintrag im Hausbogen der Bahnhofstraße 18⅓ finden, wo er vom 10.5.1939 bis zum 24.7.1939 im zweiten Stock bei Moritz Luchs, geboren am 9.4.1865 in Buttenwiesen, der wohl ein Cousin von Eugen Luchs war, gewohnt hat und sich dann nach England abgemeldet hat.9 Über Sofie ist ebenfalls ein Eintrag im selben Bogen, sie wohnte auch bei Moritz Luchs, allerdings vom 2.10. bis zum 1.12.1940, und zog dann an den Hinteren Lech 23.10 Eugen Luchs musste vom 8.5. bis zum 5.10.1939 Zwangsarbeit in der Ziegelei „Hochfeld, Weiss & Co“ in Göggingen und ab 3.6.1940 im Baugeschäft Egger verrichten.11

Else, Eugen und Alice sind dann vom 1.4.1940 bis zum 17.11.1941 im zweiten Stock der Bahnhofstraße 18⅓ gemeldet.12

Am 23. Oktober 1941 verbot das NS-Regime Juden die Auswanderung, womit das Schicksal derer, die die Emigration nicht realisieren konnten, besiegelt war. Mitte November kamen die ersten Deportationsbefehle und die Kultusgemeinde wurde gezwungen, den Transport mit zu organisieren. 20 Männer, Frauen und Kinder wurden am 20. November 1941 von Augsburg über das Sammellager Milbertshofen bei München nach Kowno/Kaunas in Litauen transportiert. Niemand hat die Deportation überlebt.13 Unter ihnen befand sich auch Eugen Luchs mit seiner Frau Else und den beiden Töchtern Alice und Sofie.14

Diese Deportation sollte, wie sich in den 1950er Jahren herausstellte, eigentlich nach Riga gehen und nicht nach Kaunas. Das Ghetto in Riga war aber zu diesem Zeitpunkt überbelegt.15 Die Transportliste beinhaltete insgesamt 1.060 Namen, da auch Ersatzleute nominiert werden mussten, vorgesehen waren allerdings 1.000 Personen. Mit 1.000 Menschen war der Transport nach Kaunas der größte aus München.16 Es gab auch bestimmte Kriterien, nach denen die Transportteilnehmer ausgesucht wurden, so waren nur Juden unter 65 Jahren vorgesehen, Familien sollten nicht getrennt werden. Verschont blieben ausländische Juden, diejenigen die hohe Kriegsauszeichnungen vorzuweisen hatten und Juden aus „Mischehen“ oder auch „Mischlinge“. Anhand dieser zu beachtenden Punkte musste die Münchner Kultusgemeinde die Liste innerhalb weniger Tage zusammenstellen. Die Transportteilnehmer bekamen auch eine Liste der Gegenstände, die sie mitnehmen mussten, und ihr Gepäck durfte das Maximalgewicht von 50 kg nicht überschreiten. Außerdem mussten die „Reisekosten“ von den Juden selbst übernommen werden, wer dazu nicht in der Lage war, für den musste die Kultusgemeinde aufkommen. Zusätzlich musste jede Person noch 50,00 RM in bar an die Gestapo zahlen.17 Die Gestapo behielt die Papiere der Juden ein und sortierte außerdem alle Gegenstände aus dem Gepäck aus, die sie für nicht notwendig hielten, welche dann später zugunsten des deutschen Reiches versteigert wurden.18 Bei diesem Transport, der vermutlich schon einige Tage früher hätte stattfinden sollen, wurden fast alle Insassen des Lagers in Milbertshofen deportiert.19

Die genaue Strecke, die sie damals fuhren, ist heute nicht mehr rekonstruierbar; nach drei Tagen Zugfahrt erreichten sie Kaunas. Von dort mussten sie zu Fuß etwa sechs Kilometer zum Fort IX laufen. Die Forts, die um Kaunas liegen, stammen noch aus der Zarenzeit und dienten ehemals als Befestigungsanlagen, um sich vor deutschen Überfällen zu schützen und um Kriminelle zu inhaftieren. Von den Deutschen wurden sie dann in Hinrichtungsstätten für Juden umgewandelt. Noch bevor die Deportierten ankamen, wurden gerade in Fort VII und IX Tausende litauische Juden ermordet. In schäbigen Arrestzellen im Fort IX wurden dann die Juden aus München und Augsburg eingesperrt. Am 25. November 1941 wurden alle Deportierten von Angehörigen des Einsatzkommandos 3 erschossen und die Leichen der Ermordeten in bereits ausgehobenen Gräbern verscharrt.20

Der Sohn Arthur Luchs hat überlebt. Es ist möglich, dass Arthur mit einem sog. Kindertransport nach England gelangt ist, wo er bis zu seinem 16. Lebensjahr wohnte. Gleich nach Ende des Kriegs hat Arthur, der damals in Leeds wohnte, versucht herauszubekommen, was mit seiner Familie passiert ist, und einen Antrag auf Bestätigung der Deportation seiner Familie bei der Vorgängerorganisation des ITS (International Tracing Service) gestellt.21 Arthur emigrierte dann in die USA, wo er bei seinem Onkel Karl Wollenreich und seiner Tante Betty Engel in Ohio wohnte. Dort schloss er dann die High School sowie das College ab, war als Sanitäter bei der U.S. Army tätig und arbeitet dann bei der Firma Standard Textile Co.22 Er heiratete Rosalee Zager, die beiden bekamen zwei Söhne. Arthur Luchs ist am 22.5.1981 gestorben.23

Todesanzeige von Arthur Luchs. (American Jewish Archives)

 

Dies ist ein Auszug aus der Biografie, die von Leonie Engemann, Schülerin des Oberstufenjahrgangs 2016/2018 am Paul-Klee-Gymnasium Gersthofen, im Rahmen des W-Seminars „Biografien von jüdischen Opfern des Nationalsozialismus im Großraum Augsburg“ im Fach Geschichte erarbeitet wurde.

Angehörige
Fußnoten
  1. Ilse Vogel, Vom Land in die Stadt: 200 Jahre Judenschaft zu Pahres. 70 Jahre jüdisches Leben in Neustadt an der Aisch, Neustadt an der Aisch 2008, S. 180.
  2. http://www.alemannia-judaica.de/neustadt_aisch_synagoge.htm (aufgerufen am 20.7.2020).
  3. Ilse Vogel, 2008, S. 180.
  4. StadtAWertingen, E-Mail von Dr. Johannes Mordstein; StadtANEA, FB Eugen Luchs.
  5. StadtANEA, FB Eugen Luchs.
  6. Ilse Vogel, 2008, S. 251f.
  7. Ilse Vogel, 2008, S. 181.
  8. StadtAA, MK II, Eugen Luchs.
  9. StadtAA, HB Bahnhofstraße 18 1/3.
  10. StadtAA, HB Bahnhofstraße 18 1/3.
  11. ITS Digital Archive Bad Arolsen, 2.1.1.1/6080121.
  12. StadtAA, HB Bahnhofstraße 18 1/3.
  13. Benigna Schönhagen, „… und dann heißt‘s Abschied nehmen aus Augsburg und Deutschland“. Der Weg der Familie Stern aus Augsburg (Lebenslinien. Deutsch-jüdische Familiengeschichte, Bd. 6), Augsburg 2013, S. 51.
  14. StadtAA, HB Bahnhofstraße 18 1/3; https://www.statistik-des-holocaust.de/OT411120-55.jpg (aufgerufen am 20.7.2020).
  15. Maximilian Strnad, Zwischenstation „Judensiedlung“. Verfolgung und Deportation der jüdischen Münchner 1941–1945, München 2011, S. 110.
  16. Andreas Heusler, Elisabeth Angermair, Al Koppel, „… verzogen, unbekannt wohin“. Die erste Deportation von Münchner Juden im November 1941, München 2001, S. 14.
  17. Maximilian Strnad, 2011, S. 111.
  18. Ebd., S. 114.
  19. Ebd., S. 116.
  20. Heusler, Angermair, Koppel, 2001, S. 18f.
  21. ITS Bad Arolsen, E-Mail von Margit Vogt von der Abteilung Forschung und Bildung des ITS (International Tracing Service).
  22. E-Mail von Rosalee Luchs vom 3.11.2017.
  23. American Jewish Archives, Todesanzeige Arthur Luchs.
Quellen- und Literaturverzeichnis
Unveröffentlichte Quellen:

American Jewish Archives
– Todesanzeige Arthur Luchs

Bayerisches Hauptstaatsarchiv (BayHStA), Abt. Kriegsarchiv
– Bd. 1631 KStR (Eugen Luchs)

E-Mail von Rosalee Luchs vom 3.11.2017

ITS Bad Arolsen, E-Mail von Margit Vogt von der Abteilung Forschung und Bildung des ITS (International Tracing Service)

ITS Digital Archive Bad Arolsen
– 2.1.1.1/6080121

Stadtarchiv Augsburg (StadtAA)
Hausbogen (HB):
– Bahnhofstraße 18 1/3

Meldekarten (MK):
– Luchs

Meldekarten II (MK II)
– Eugen Luchs

Stadtarchiv Neustadt an der Aisch (StadtAEA)
Familienbogen (FB):
– Eugen Luchs

Stadtarchiv Wertingen (StadtAWertingen)
– E-Mail von Dr. Johannes Mordstein

Literatur:

Andreas Heusler, Elisabeth Angermair, Al Koppel, „… verzogen, unbekannt wohin“. Die erste Deportation von Münchner Juden im November 1941, München 2001.

Benigna Schönhagen, „… und dann heißt‘s Abschied nehmen aus Augsburg und Deutschland“. Der Weg der Familie Stern aus Augsburg (Lebenslinien. Deutsch-jüdische Familiengeschichte, Bd. 6), Augsburg 2013.

Maximilian Strnad, Zwischenstation „Judensiedlung“. Verfolgung und Deportation der jüdischen Münchner 1941–1945, München 2011.

Ilse Vogel, Vom Land in die Stadt: 200 Jahre Judenschaft zu Pahres. 70 Jahre jüdisches Leben in Neustadt an der Aisch, Neustadt an der Aisch 2008.