Augsburg, Vogelmauer 9 (Litera G 185)
Lautrach, Schutzengelheim Deybach
Heil-und Pflegeanstalt Kaufbeuren-Irsee
Tötungsanstalt Hartheim bei Linz
„Aktion T4“
Babette Kerl ist das vierte Kind des Dillinger Magazingehilfen, Schuhmachers und Reisenden Nikolaus Kerl und seiner Ehefrau Klara, geborene Zahnmesser.1 Das Paar hatte am 10. Januar 1892 in Augsburg geheiratet. Drei ihrer Kinder, Georg, Nikolaus und Franziska, sterben im frühen Kindesalter.2
Der Vater stirbt 1905 im Alter von 40 Jahren. Von den Kindern sind neben Babette noch ihre ältere Schwester Klara3 und ihr Bruder Max am Leben, der zwei Monate vor dem Tod des Vaters geboren wird.4 Sein Schicksal ist ungeklärt. Er kommt ab 1920 nach Schwabmühlhausen, war in der Betreuung der städtischen Armenpflege, später wird er in Neuherberg untergebracht“.5
Die Witwe geht eine Liaison mit Anton Gattinger ein, aus der zwei weitere Kinder, Therese und Regina, hervorgehen, die beide noch vor der Eheschließung mit Anton sterben.6
Babette Kerl besucht seit 1908 die Grundschule in Maria Stern. Sie ist eine richtig gute Schülerin mit ordentlichen Noten. Ihr Zeugnis weist keine einzige 4 auf. Die Mutter könnte mit ihr sehr zufrieden sein, wenn da nicht gesundheitliche Probleme wären. Im Alter von 11 Jahren erleidet sie epileptische Anfälle. Anfangs nur alle 8 Tage, aber bald immer häufiger. Nun verschlechtern sich auch die schulischen Leistungen und sie muss mehrfach die Klasse wiederholen.7 Ihr letzter Wohnsitz in Augsburg ist bei der Mutter in Augsburg, Vogelmauer 9 (Litera G 185).
Am 23. Januar 1915 wird Babette auf Anraten der Ärzte ins Schutzengelheim nach Deybach bei Lautrach eingewiesen. Die Mutter begleitet sie dorthin.8 Wenige Monate später ist ihre Mutter tot, nun kann sich nur noch ihre Schwester Klara um Babette kümmern.9
Über ihre Zeit in Lautrach ist wenig bekannt, ein ärztlicher Zwischenbericht vom 28.5.1930 diagnostiziert genuine Epilepsie.
Im November 1940 wird Babette in die Heil- und Pflegeanstalt nach Kaufbeuren überwiesen. Wir müssen davon ausgehen, dass dem Anstaltsleiter Dr. Valentin Faltlhauser seit dem Frühjahr 1940 von Berlin Listen mit den Namen der Patienten zugesandt werden, welche die Gutachter der Aktion T-4 in Berlin für „lebensunwürdig“ halten und welche dementsprechend in eine Reichsanstalt überwiesen werden sollen.10 Andererseits ist Faltlhauser seit September 1940 selbst Gutachter. Vielleicht hat er seit dieser Zeit selber Listen angefertigt, weil er ja die Patienten vor Ort besser kennt als die Gutachter in Berlin, die vom Schreibtisch aus ihre Todesurteile fällen. Zumindest wird er ab Juni 1940 auf den Listen, die aus Berlin kommen, Veränderungen vorgenommen haben.11 Als Gutachter der T-4 Aktion ist Faltlhauser auch „Mitglied einer Kommission, die in unzuverlässigen Anstalten die zur Tötung bestimmten Patienten vor Ort auswählte“12 .
Wer auch immer entschieden hat, für Babette Kerl bedeutet die „Verlegung“ das Todesurteil, denn die Intention ist stets die Ermordung13 der Patienten. Nur in wenigen Ausnahmen kommen Patienten zurück in die Heil- und Pflegeanstalten.14
Dieser Form der „Selektion lebensunwürdigen Lebens“ gehen umfangreiche Planungen voraus. Am 9.10.1939 werden vom Leiter der Abteilung IV des RMdI, Leonardo Conti, die in Frage kommenden Heil- und Pflegeanstalten zur Benennung bestimmter Patienten mittels Meldebögen aufgefordert.15 In einem beigefügten Merkblatt sind folgende Kriterien angegeben:
Diese Meldebögen werden über den zuständigen Referenten Herbert Linden im RMdI an die T-4 Zentrale weitergeleitet. Drei „Gutachter“ entscheiden aufgrund der Meldebögen, also nicht aufgrund eigener Untersuchungen über Tod oder Weiterleben der Patienten.17
Babette Kerl kommt also nach Kaufbeuren, um dem sicheren Tod zugeführt zu werden. Dabei sind die ärztlichen Beobachtungsbögen ausgesprochen positiv. Nach einer verständlichen Eingewöhnungsphase nimmt sie das Geschehen ausgesprochen wachsam zur Kenntnis.
Der wachhabende Arzt vermerkt am
23.03.1941:
„Patientin ist überaus lebhaft, keineswegs langsam und verschlafen. Sie macht auch keinen schwerfälligen oder dummen Eindruck. Sie kümmert sich um alles, weiß alles und ewig funktioniert ihr Mundwerk. … Die Mutter sei 1915 gestorben. Sie habe nur noch eine Schwester, die sie besucht habe ….. Pat. Ist zeitlich sowie örtlich sehr gut orientiert … Patient versorgt sich selbst. Sie hilft beim Stopfen und betätigt sich in der Hausarbeit.“
22.06.1941:
„P. ist praktisch sehr talentiert. Sie kann alles, kümmert sich um alles, geht bei jeder Arbeit an die Hand, ist dabei recht fix-und-fertig. Sowie man aber nach abstraktem Wissen frägt versagt die Kranke völlig. …. Etwa jeden Monat hat sie einen Anfall, sie ist danach immer etwas gereizt, macht aber weiter keine Schwierigkeiten. Überhaupt ist sie nicht bösartig, nachträglich oder grantig, wie sie auch von einer epileptischen Schwerfälligkeit nichts an sich hat.“
08.08.1941:
„P. ist stets sehr lebhaft, redet und treibt den ganzen Tag um. Durch ihre Geschäftigkeit verdeckt sie sehr gut den intellektuellen Defekt. …
Patientin wurde heute verlegt. Gez. W.
Zusammen mit weiteren 132 Frauen wird Babette Kerl, darunter die Augsburgerinnen Therese Baumeister, Johanna Baur, Maria Egger, Maria Eichberger, Walburga Federhofer, Maria Garke, Maria Göhly, Anna Göldl, Barbara Hölzle, Aloisia Kempter, Viktoria Knorz, Magdalena Kurz, Karolina Balbina Müller, Maria Müller, Pfiffner Agnes, Ragner Anna, Liselotte Sack, Wilhelmine Schindler, Rosa Schlosser, Walburga Schlosser, Maria Schmucker und Maria Wiesenbarth in die Tötungsanstalt nach Schloß Hartheim bei Linz deportiert und dort vergast.18
Erstellt von: Dr. Bernhard Lehmann, StD a.D., 86368 Gersthofen, Haydnstr. 53, Tel. 0821/497856, bernhard.lehmann@gmx.de
Stadtarchiv Augsburg (StadtAA)
Meldebogen (MB):
– Klara Kerl
Standesamt Augsburg:
– Nr. A 1215/1905 Max Kerl
– Nr. A 1616
Bundesarchiv Berlin (BArch)
– R 179-21779 Patientenakte Babette Kerl
Initiativkreis Stolpersteine für Augsburg und Umgebung
(https://stolpersteine-augsburg.de/)
– Foto: Stolperstein
Götz Aly (Hg.), Aktion T4. 1939-1945. Die „Euthanasie“-Zentrale in der Tiergartenstraße 4. Zweite Auflage, Berlin 1989.
Götz Aly, Die Belasteten. „Euthanasie“ 1939-1945. Eine Gesellschaftsgeschichte, Frankfurt 2013.
Michael Burleigh (Hg.), Tod und Erlösung. Euthanasie in Deutschland 1900-1945, Zürich 2002.
Michael von Cranach/Petra Schweizer-Martinschek, Die NS-„Euthanasie“ in der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren-Irsee, in: Stefan Dieter (Hg.), Kaufbeuren unterm Hakenkreuz, Kaufbeurer Schriftenreihe Band 14, Thalhofen 2015, S. 270-287.
Ernst Klee (Hg.) Dokumente zur „Euthanasie“, Frankfurt/Main 1985.
Ulrich Pötzl, Sozialpsychologie, Erbbiologie und Lebensvernichtung. Valentin Faltlhauser, Direktor der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren-Irsee in der Zeit des Nationalsozialismus, München 1995.
Thomas Stöckle, Grafeneck 1940. Die Euthanasie-Verbrechen in Südwestdeutschland, 3. Auflage, Tübingen 2012.