Gersthofen, Fabrikstraße 80 (= Ludwig-Hermann-Straße 80)
Gersthofen, Hausnummer 13 ½ (= Donauwörther Straße 19)
Frauengefängnis Aichach
Auschwitz
Anna Stögbauer1 ist die Tochter des aus Scheureck, Landkreis Prachatitz in der Tschechoslowakei stammenden Julius Stögbauer2 und dessen erster Ehefrau Maria Anna Stögbauer, geb. Kapfer3 , die aus Gersthofen stammt.
Maria Anna ist 7 Jahre älter als ihr Mann und bringt den unehelichen Sohn Sigmund (geb. 1894) mit in die Ehe4 , auch eine uneheliche Tochter Adelgunde Kapfer (geb. 1899) ist nachweisbar.5
Julius Stögbauer muss vor der Jahrhundertwende nach Gersthofen gekommen sein. Er ist bei den Farbwerken Gersthofen als Kontorist angestellt und verdient dort recht ordentlich.6
Sein Bruder Adolf ist ebenfalls in Gersthofen wohnhaft und arbeitet als Heizer, der zweite Bruder Leopold wohnt in Schönmühl; Franz Stögbauer, ein dritter Bruder wohnt und arbeitet in Moosburg.7
Julius und Maria Anna haben vor ihrer Verehelichung 3 gemeinsame Kinder: Josef, geb. am 21.2.1901, Alois8 , geb. am 23.8.1902, und Viktoria, geb. am 19.8.1903. Josef und Viktoria versterben im frühen Kindesalter9 Maria Anna Kapfer und Julius Stögbauer heiraten im November 190510 Am 6. Januar 1906 kommt ihre Tochter Kreszenz11 zur Welt, Anna wird am 1. Juni 1907 geboren.12
Bereits am 27. März 1909 verstirbt Maria Anna Stögbauer in Gersthofen im Alter von 37 Jahren an Wassersucht.13 Der Vater steht jetzt mit 3 kleinen Kindern Alois (7 Jahre), Kreszenz (3 Jahre) und Anna (2 Jahre), dem 15-jährigen Stiefsohn Sigmund und der Stieftochter Adelgunde da. Er heiratet im Januar 1910 Kreszentia Schneider.14
Diese bringt wiederum den unehelichen Sohn Josef (1901–1961) mit in die Ehe. Aus dieser zweiten Ehe geht auch eine weitere Tochter, Rosa hervor.15 Es kann, ja muss angenommen werden, dass ein Zusammenleben der Patchwork Familie nicht ganz reibungslos verlaufen ist.16 Anna Stögbauer beschreibt ihren Vater als tüchtig und fleißig, der aber gegen Frau und Kinder ernst und grob ist und viel trinkt.17 Er ist nierenleidend. Die Nachbarn beschreiben ihn als freisinnigen, religionslosen Sozialdemokraten.18 Ihre Stiefmutter Kreszentia wird von Anna als herb, aber fleißig, gutmütig und verträglich charakterisiert.19 Vater und Stiefmutter streiten nach Angaben von Anna sehr häufig. Anna besucht von 1913 an die Volksschule, dann eine Fortbildungsschule, ab 1923 ist sie als Dienstmagd in Augsburg in Stellung.20
Seit 1919 wird Anna laut Gerichtsunterlagen von ihrem 5 Jahre älteren Bruder Alois regelmäßig sexuell missbraucht und vergewaltigt, nach Angaben von Anna als 12-jährige auch von ihrem Vater.21 Eine Woche vor ihrem 18. Geburtstag wird Anna vom Amtsgericht Augsburg am 24. Mai 1925 wegen „Blutschande“ zu 3 Monaten Gefängnis verurteilt, obwohl sie doch eindeutig Opfer und nicht Täterin ist.22 Es ist nicht ungewöhnlich, dass die Frauen nach ihrer Vergewaltigung in dieser Zeit wegen Blutschande gerichtlich belangt werden, während die Täter straflos davonkommen.
Alois ist bereits mehrfach vorbestraft und wird auch wegen „Blutschande“ an seiner Schwester belangt.23 Für Anna ist es die erste „Straftat“ überhaupt. Weder der (1927 versterbende) Vater noch die Stiefmutter noch das Gericht schützen die junge Frau, die weder Zuneigung noch irgendeine Form von Unterstützung oder Hilfe von irgendeiner Seite erhalten hat. Zudem hat sie allen Grund, an Recht und Gerechtigkeit zu zweifeln.
Unter solchen Umständen ist das Abgleiten Anna Stögbauers auf die schiefe Bahn absehbar. Im Zeitraum zwischen 1926 und 1939 wird sie wegen zahlreicher Kleindiebstähle, Bettelei und Landstreicherei, Unterschlagung, Gewerbsunzucht, Landstreicherei sowie Beamtenbeleidigung in 19 Fällen angeklagt und zu Gefängnisstrafen zwischen 2 Tagen Gefängnis bis zu 1 Jahr und zwei Monaten Zuchthaus verurteilt.24 Als sie im Dezember 1927 erstmals zu einer Zuchthausstrafe verurteilt wird, die sie im Frauengefängnis Aichach verbüßt, wird ein psychologisch-soziologischer Befundbogen über sie angelegt.
Ein Bild von 1929 zeigt eine zutiefst verunsicherte und verängstigte junge Frau.25
Im Befundbogen urteilt Regierungsrat Schlager über Anna, sie sei ein „dumm-dreistes Mädchen“, eine soziale Prognose sei wegen der „frühen Verderbtheit“ des Mädchens sehr fraglich. „Äußerste Strenge“ sei angebracht, „Einzelhaft empfehlenswert, damit sie einmal in sich geht und über ihren bisherigen Lebenswandel nachdenken kann“.26 Zur „Umerziehung“ kommt Anna zwei Mal jeweils für zwei Jahre in ein Arbeitshaus, von 1932-1934 nach St. Georgen-Bayreuth, von 1937-1939 ins Arbeitshaus Aichach.27
Am 4. März 1936 wird Annas Tochter Franziska Stögbauer in Augsburg geboren.28 Kindsvater ist der Invalidenrentner Franz Lerchl aus Augsburg.29 Tochter Franziska wird von Annas Schwester Kreszenz aufgezogen.30
Eigentlich sind es immer wieder völlig harmlose Vergehen, die Anna begeht, sie klaut eine Aktentasche, eine Geige, ein Gebetbuch, einen Kinderwagen, eine Brieftasche, es sind nie höhere Beträge, um die es sich handelt. Aber von Mal zu Mal fallen die Strafen drastischer aus. In den Urteilsbegründungen heißt es, dass die bisherigen Strafen sie „nicht von ihrem liederlichen Lebenswandel abgehalten“ hätten.31
Der Tatbestand des „liederlichen Lebenswandels“ wird in sämtlichen Prozessen ab 1927 als straferschwerend immer wieder ins Feld geführt. Der soziale Hintergrund ihrer Familiengeschichte bleibt sämtlichen Urteilsfindungen völlig ausgeblendet und findet keinerlei Berücksichtigung in der Einschätzung ihres Verhaltens.
Die Polizeidirektion Augsburg weist sie erneut zwei Jahre lang, vom 12.7.1937 bis zum 12.7.1939 in die Arbeitsanstalt Aichach auf der Rechtsgrundlage des Zigeuner- und Arbeitsscheuen-Gesetzes ein.32
Nach ihrer Entlassung aus dem Arbeitshaus lernt Anna auf dem Augsburger Hauptbahnhof den um 11 Jahre jüngeren Österreicher Raimund Oizinger kennen. Gemeinsam sind sie in der Gegend um Donauwörth auf Arbeitssuche. Am 18. Oktober 1939 kommen die beiden zur Kapelle auf dem Schellenberg. Oizinger bricht die 3 Opferstöcke auf, Anna steht Schmiere. Sie erbeuten wenig mehr als 5 RM.
Einen Tag später entwenden sie aus dem Armenhaus in Baierdilling bei Rain am Lech einen Geldbeutel, wiederum steht Anna Schmiere. Oizinger entnimmt einem Geldbeutel den Betrag von 1,16 RM, aus einem offenstehenden Schrank nimmt er die Brieftasche mit 240 RM an sich. Sie haben keine Zeit, das Geld auszugeben, denn sie werden unmittelbar danach verhaftet und kommen in Untersuchungshaft.
Im Prozess am 24. Mai 1940 vor der 2. Strafkammer des Landgerichts Augsburg wird Raimund Oizinger zweier Verbrechen des schweren Diebstahls für schuldig befunden33 und zu einem Jahr Gefängnis verurteilt. Die Oberstaatsanwaltschaft Augsburg holt bei der Kriminalbiologischen Sammelstelle im Januar 1940 ein Gutachten über Anna Stögbauer ein.
Der Stellvertretende Leiter der Sammelstelle kommt zur Einschätzung:
„Die zahlreichen Vorstrafen, die beträchtliche Gesamtsumme der verbüßten Strafzeiten, die so viel wie völlige Unbeeinflussbarkeit durch Strafen … lassen die Probandin als gefährliche Gewohnheitsverbrecherin erscheinen. Die soziale Prognose ist durchaus ungünstig. Stögbauer wird wiederum in erheblichem Maße rückfällig werden. Sie ist durch Strafen weder zu erziehen noch abzuschrecken. Es ist deshalb im Anschluß an die neue Strafe die Sicherheitsverwahrung zu befürworten“.34
Gemäß dieser Prognose zeigt sich das Gericht nicht zimperlich. Anna Stögbauer als Helferin wird „als gefährliche Gewohnheitsverbrecherin“ des schweren Diebstahls im Rückfall (i.R.) zu 2 Jahren und 7 Monaten Zuchthaus mit anschließender Sicherheitsverwahrung verurteilt. Die bürgerlichen Ehrenrechte werden Anna Stögbauer auf die Dauer von 3 Jahren aberkannt, der Haftbefehl gegen Oizinger wird aufgehoben. Die jeweils 7 Monate Untersuchungshaft werden auf das Urteil angerechnet.35
Das weitaus strengere Urteil für Anna Stögbauer begründet das Landgericht Augsburg wie folgt:
„Bei der Häufung ihrer Taten, bei denen Diebstähle … und liederlicher Lebenswandel Hand in Hand gehen ist auch die Frage zu bejahen, dass die Angeklagte in Bälde wieder rückfällig werden würde. … Die Gewissenlosigkeit, mit der sie auch Leute schädigte, welche ihr Unterkunft gewährt hatten, lässt ihren verbrecherischen Hang noch bedeutsamer erscheinen, weil hier eine große Kaltblütigkeit offenbar wird. … Dass sie einen liederlichen Lebenswandel einer mit Arbeit verbundenen Lebensführung vorzog, beweist der Umstand am schlagendsten, dass sie nach verbüßtem zweijährigen Arbeitshaus in der Kriegszeit, … nichts Besseres zu tun hatte, als den jungen Mitangeklagten durch ein Verhältnis an sich zu ketten und mit ihm opferstockplündernd und stehlend durchs Land zu ziehen. Ihre Unverbesserlichkeit, auf die schon weit zurückliegende Urteile hinweisen, muss bejaht werden“.36
Die öffentliche Sicherheit erfordere zudem im Anschluss an die Zuchthausstrafe die Anordnung der Sicherheitsverwahrung gemäß § 42e RStGB:
„Wer wie die Angeklagte erwarten lässt, dass er seine Rechtsbrüche auch nach verbüßter Strafe fortsetzen wird, wer nach zwei Jahren Arbeitshaus in keiner Weise gebessert erscheint, bildet eine derartige Gefahr für die Allgemeinheit, dass er verwahrt werden muss“.37
Obwohl das Urteil gegen Anna Stögbauer ohnehin mit einer Zuchthausstrafe von 2 Jahren und 7 Monaten drastisch genug ausfällt, ist das Gericht in seiner Begründung besonders bemüht, sie als gefährliche Gewohnheitsverbrecherin erscheinen zu lassen und die Notwendigkeit einer Sicherheitsverwahrung als unumgänglich hinzustellen.
Die Nationalsozialisten hatten im „Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher und über Maßregeln der Sicherung und Besserung“ vom 24. November 1933 als Novelle den § 42e in das Reichsstrafgesetzbuch (RStGB) eingeführt.38 Maßregeln neben der „Sicherungsverwahrung“ waren die Zwangsunterbringung in Heil- und Pflegeanstalten, Trinkerheilanstalten, Entziehungsanstalten und Arbeitshäusern, die Untersagung der Berufsausübung, die Reichsverweisung und die „Entmannung“ „gefährlicher Sittlichkeitsverbrecher“.39
Infolge dieser Rechtslage wird Anna Stögbauer ins Frauengefängnis nach Aichach überstellt.40 Dort verbleibt sie vom Mai 1940 bis zum Februar 1943.
Gemäß einer Vereinbarung des Reichsjustizministers Otto Georg Thierack mit dem Reichsminister des Inneren, Heinrich Himmler vom 18. September 1942 können Häftlinge mit langen Haftstrafen oder Sicherungsverwahrung zur „Vernichtung durch Arbeit“ nach Auschwitz geschickt werden:
„Auslieferung asozialer Elemente aus dem Strafvollzug an den Reichsführer SS zur Vernichtung durch Arbeit. Es werden restlos ausgeliefert die Sicherungsverwahrten, Juden, Zigeuner, Russen und Ukrainer, Polen über 3 Jahre Strafe, Tschechen oder Deutsche über 8 Jahre Strafe nach Entscheidung des Reichsjustizministers …“.41
In gnadenloser Konsequenz laufen dementsprechend von Aichach aus mehrere Transporte ins Vernichtungslager Auschwitz. Anna Stögbauer kommt mit dem 4. Gefangenentransport vom 13. Februar 1943 mit 38 weiteren Frauen nach Auschwitz42 Mit einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit wird sie in Auschwitz ermordet. Ihr Todesdatum ist auf den 26. August 1943 datiert.43
Biografie erstellt von: Dr. Bernhard Lehmann 86368 Gersthofen, Gegen Vergessen – Für Demokratie RAG Augsburg-Schwaben, Haydnstraße 53, Tel. 0821/497856 bernhard.lehmann@gmx.de
2020
Bayerisches Hauptstaatsarchiv (BayHStA)
– Kriminalbiologische Sammelstelle, Nr. 385
– Psychologisch-soziologische Befundbögen Nr. 23819
Nachlassgericht Nördlingen
– AZ VI 100405/85
Staatsarchiv München (StAM)
– JVA 10754: Strafliste Staatsanwaltschaft Augsburg vom 28.10.1939 und Urteil vom 24.5.1940
– JVA Gefangenenbuch Sicherheitsverwahrung ab 1.4.1941 bis 1945
Stadtarchiv Gersthofen (StadtAGerst)
– Familie Stögbauer, Nr. 3231-210082
Interview mit Inge Wild am 25.10.2019
Initiativkreis Stolpersteine für Augsburg und Umgebung
(https://stolpersteine-augsburg.de/)
– Foto: Stolperstein
Julia Hörath, „Asoziale“ und „Berufsverbrecher“ in den Konzentrationslagern 1933 bis 1938, Göttingen 2017.
Franz Josef Merkl, An den Rändern der „Volksgemeinschaft“– Frauenschicksale in der Strafanstalt Aichach 1933-45, in: Altbayern in Schwaben, Aichach 2018, S. 101-164.