Gersthofen
Gesundheitsamt Augsburg
Erbgesundheitsgericht beim Amtsgericht Augsburg
Städtisches Krankenhaus Augsburg
Aloysia M. ist am 30. September 1909 in Gersthofen geboren.1 Gemeinsam mit ihrem Vater Anton2 und ihrer Mutter Babette Barbara wohnt sie in der Fabrikstraße.3
Aus der ersten Ehe von Babette Barbara R. mit Ephraim M.4 stammen die um 12 Jahre ältere Stiefschwester Barbara Aloisia und der 9 Jahre ältere Stiefbruder Wilhelm M. (Jg. 1900).5
Aus der zweiten Ehe ihrer Mutter Babette Barbara mit Anton M. am 15. Juni 1907 gehen ihr Bruder Anton6 (geb. 1908) und Josefine Emilie7 hervor.8
Die Leistungen Aloysias in der Volksschule sind richtig gut, sie nimmt eine erfreuliche geistige Entwicklung. Sie besucht die Volksschule Gersthofen von 1915 bis 1922.9
Unglücklicherweise treten bei ihr ab dem 8. Lebensjahr vereinzelt Krämpfe und Ohnmachtsanfälle auf. Ihre Lehrerin Wally Wolf ist der Ansicht, es handle sich um hysterische Anfälle. Sie habe Aloysia einmal energisch angepackt, seit dieser Zeit seien die Anfälle nicht mehr aufgetreten. Aber sie irrt. Ab ihrem 12. Lebensjahr hat Aloysia solche Anfälle alle 2–6 Wochen. Den Krämpfen gehen Kopfschmerzen voraus. Danach folgt eine Bewusstlosigkeit von ca. 10 Minuten, verbunden mit zuckenden Krämpfen der Gliedmaßen, die in Gliedersteifheit übergehen. Aloysia kann sich danach an nichts mehr erinnern. Die Krämpfe sind mit Zungenbiss, Speichelfluss und Atemnot verbunden. Müdigkeit, Entschlusslosigkeit und Verlangsamung der geistigen Auffassung sind die Folge der epileptischen Anfälle.10
Dr. Neussell hat bereits früher in einer Operation ihren Kropf entfernt, der ihre Atemnot verursacht. Der Bezirksarzt Dr. Friedrich Höchstetter zeigt Aloysia M. wegen ihrer epileptischen Anfälle beim Gesundheitsamt an.
Seit dem 1. Januar 1934 ist das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ in Kraft, das die Nazis bereits am 14. Juli 1933 verabschiedet haben.11 Demaskierend ist die offizielle Begründung dieses Gesetzes:
„Der fortschreitende Verlust wertvoller Erbmasse muss eine schwere Entartung aller Kulturvölker zur Folge haben. Von weiten Kreisen wird heute die Forderung gestellt, durch Erlass eines Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses das biologisch minderwertige Erbgut auszuschalten. So soll die Unfruchtbarmachung eine allmähliche Reinigung des Volkskörpers und die Ausmerzung von krankhaften Erbanlagen bewirken.“12
Die wahnhaft rassistisch-sozialdarwinistischen Vorstellungen bilden demzufolge die Grundlage für die Zwangssterilisation von bis zu 400.000 Menschen im sog. 3. Reich. Betroffen sind vor allem Fürsorgeempfänger, Langzeitarbeitslose, Alkoholiker, „Asoziale“, Geisteskranke, körperlich Beeinträchtigte und andere. Nach Meinung der nationalsozialistischen Machthaber sollen sich diese „Ballastexistenzen“, wie sie von vielen Eugenik-Befürwortern genannt werden, nicht fortpflanzen dürfen. Ärzte, Sozialarbeiter und Lehrer haben im Fall „erblich bedingter“ Auffälligkeiten und Krankheitsbilder die gesetzliche Pflicht zur Anzeige beim Gesundheitsamt, welches dann nach Erstellung eines Gutachtens beim Erbgesundheitsgericht die Sterilisation der angezeigten Personen beantragt.13
§ 1 des Gesetzes lautet:
(1) Wer erbkrank ist, kann durch chirurgischen Eingriff unfruchtbar gemacht (sterilisiert) werden, wenn nach den Erfahrungen der ärztlichen Wissenschaft mit großer Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist, daß seine Nachkommen an schweren körperlichen oder geistigen Erbschäden leiden werden.
(2) Erbkrank im Sinne dieses Gesetzes ist, wer an einer der folgenden Krankheiten leidet:
(3) Ferner kann unfruchtbar gemacht werden, wer an schwerem Alkoholismus leidet.14
Eigens dafür geschaffene Erbgesundheitsgerichte sollen darüber entscheiden, wer als „erbkrank“ im Sinne der Nationalsozialisten zu gelten habe.15 Anträge zur Unfruchtbarmachung können die Bezirksärzte, die Leiter von Heil- und Pflegeanstalten oder von Strafanstalten bei den Erbgesundheitsgerichten stellen, die den Amtsgerichten angegliedert sind.16
Mit Recht ist darauf hingewiesen worden, dass die Frage der Erblichkeit einer bestimmten Erkrankung oder Einschränkung sich in den 1930-er und 1940-er Jahren kaum beantworten ließ, stand doch eine genetische Diagnostik damals noch nicht zur Verfügung.17
Nach der Untersuchung beim Gesundheitsamt Augsburg am 9.11.1934, welches die Befunde des Bezirksarztes Dr. Höchstetter bestätigt, findet beim Erbgesundheitsgericht beim Amtsgericht Augsburg am 13. Dezember 1934 eine nichtöffentliche Verhandlung statt. Amtsgerichtsrat Anhäußer fällt gemeinsam mit Landgerichtsarzt Obermedizinalrat Dr. Steidle sowie Stadtarzt Obermedizinalrat Dr. Keck nach Einvernahme der betroffenen Aloysia M. die Entscheidung, sie unfruchtbar zu machen.18
Am 26. Januar 1935 wird die Operation im Städtischen Krankenhaus Augsburg vorgenommen. Der Eingriff ist so schwerwiegend, dass Aloysia eine schwere Lungenentzündung mit hohem Fieber erleidet.19
Die Nationalsozialisten haben aus rassistischen Erwägungen unwiderruflich Einfluss auf die Gesundheit, Lebensperspektive und Privatsphäre von Aloysia M. genommen. Aloysia verstirbt am 1. August 1948 in Gersthofen.20
„Was geschah, ist eine Warnung. Die Verbrechen zu vergessen, ist Schuld. Man soll ständig an sie erinnern. Es war möglich, dass dies geschah, und es bleibt jederzeit möglich. Nur im Wissen kann es verhindert werden.“
Die Stolpersteine, die Gunther Demnig verlegt hat, mittlerweile über 70.000 in 21 Ländern Europas und in 1.265 Kommunen, sind ein deutliches, für jedermann sichtbares Aufbegehren gegen dieses Vergessen, dokumentiertes Zeugnis, dass das, was geschah, eben nicht vergessen ist.
Opferbiografie erstellt von Dr. Bernhard Lehmann StD, Gegen Vergessen – Für Demokratie, RAG Augsburg-Schwaben, 86368 Gersthofen, Haydnstr. 53 bernhard.lehmann@gmx.de
Staatsarchiv Augsburg (StAA)
Sterilisationsakte 425/34 Aloysia M
Stadtarchiv Gersthofen (StadtAGerst)
EWO-Karten M. Aloisia und M. Anton
Geburtenbuch Gersthofen Nr. 73/1909
Heiratsbuch 08/1907
Sterbebuch Gersthofen 34/1950
Sterbebuch Augsburg, 290/1904
Totenbuch St. Jakobus Gersthofen, Nr. 38 Seite 17, 1948
Drucksache 16/38111 – Antrag auf Ächtung des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 14. Juli 1933, in: Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode
Reichsgesetzblatt I (RGBl. I)
S.125, abgedruckt bei: http://www.documentarchiv.de/ns/erbk-nws.html
Wolfgang Benz, Verweigerte Erinnerung, in: Margret Hamm (Hg.), Ausgegrenzt! Warum? Zwangssterilisierte und Geschädigte der NS-„Euthanasie“ in der Bundesrepublik Deutschland, Berlin 2017, S. 15-22.
Stefanie Westermann, „Ein Mensch, der keine Würde mehr hat, bedeutet auf dieser Welt nichts mehr“. Zwangssterilisierte Menschen in der Bundesrepublik Deutschland, in: Margret Hamm (Hrsg.), Ausgegrenzt! Warum? Zwangssterilisierte und Geschädigte der NS-„Euthanasie“ in der Bundesrepublik Deutschland, Berlin 2017.