Augsburg, Pilgerhausgasse 39
Augsburg, Vorderer Lech 22
Augsburg, Vorderer Lech 9/III
Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren
Wilhelmine Messer, geb. Stähle ist die Tochter des Ensinger Schuhmachers Gottlieb Friedrich und seiner Ehefrau Jakobine Dorothea Stähle, geb. März.1 Wilhelmine ist am 6. Juni 1860 in Ensingen geboren und hat 4 Geschwister.2 Nur ihre beiden Brüder Friedrich und Gottlieb Wilhelm sind namentlich bekannt.3
Mit 24 Jahren heiratet Wilhelmine am 19. Mai 1884 den Augsburger Schleifer Bartholomäus Messer. Dessen erste Frau Christina Elisabeth war nach nur drei Monaten Ehe am 30. September 1883 verstorben.4
Drei der sechs gemeinsamen Kinder von Wilhelmine und Bartholomäus versterben im Kindesalter, Jakob, geb. 18865 ; Anna6 , geb. 1888 und Wilhelm Friedrich, geb. 18907 überleben.
Ihr Ehemann Bartholomäus, der mit erheblichen Alkoholproblemen zu kämpfen hatte8 , verstirbt nach acht gemeinsamen Ehejahren 1892.
Wilhelmine versucht, als Zeitungsausträgerin, Putz- und Waschfrau ihren beiden Söhnen und ihrer Tochter eine menschenwürdige Existenz zu bieten.9 Mit ihren Kindern wohnt sie bis zum 1. April 1914 am Vorderen Lech 22, danach am Vorderen Lech 9.10
Im Alter von 49 Jahren unternimmt Wilhelmine Ende Mai 1909 einen Suizidversuch11 und wird ins Krankenhaus eingewiesen.12 Ihre linke Hand bleibt verkrüppelt. Nach eigenen Aussagen ist sie lebensüberdrüssig. Selbst die zärtlich geschriebenen Briefe ihrer Kinder vermögen sie nicht aufzuheitern. Offensichtlich leidet sie an einer melancholischen Depression, weshalb sie im Juni 1909 in die Kreis-, Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren überwiesen wird.13 Nach vier Monaten wird sie wieder nach Augsburg entlassen.14 Ab August 1909 lebt sie alleine in ihre Wohnung am Vorderen Lech und bleibt bis 1935 völlig unauffällig.
Ihr Zustand verschlechtert sich ab Mitte 1935. Wilhelmine wird von der Beratungsstelle für Nerven- und Gemütskranke der Heilanstalt Kaufbeuren in Augsburg, Untere Maximilianstraße D 9 betreut. Mit Zustimmung der Kinder wird Wilhelmine wegen „seniler Demenz“ am 29. September in die Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren verbracht.
Trotz ihrer 78 Jahre macht sie bei der Anamnese einen geistig und körperlich frischen, aufgeräumten Eindruck und ist örtlich und zeitlich bestens orientiert. Sie erzählt über ihren 4 ½ monatigen Aufenthalt im Augsburger Krankenhaus und über ihre 3 Kinder und ihren verstorbenen Ehemann. Die Patientin sei freundlich und fleißig und versorge sich selbst.15
Nach wenigen Wochen überweisen die Ärzte sie auf Antrag des Landesfürsorgeverbandes am 5.11.38 ins Elisabethenstift nach Lauingen. Sie arbeitet dort bei der Hausarbeit zuverlässig mit, ist mit Stricken beschäftigt und kümmert sich vorbildlich um ein Flüchtlingskind.16
Nach 2 Jahren wird Wilhelmine im Rahmen eines Sammeltransportes am 12. November 1940 mit weiteren Insassen des Elisabethenstifts in Lauingen auf die Abteilung 28 der Günzburger Anstalt mit der Diagnose „Schizophrenie“ verlegt.17 Ihr Zustand bleibt instabil. Der Patientenbogen hält fest, dass Wilhelmine ab 10. Dezember 1943 bettlägerig geworden sei.18
Am 5. Januar 1944 wird sie wegen der Räumung der Heil- und Pflegeanstalt in Günzburg nach Kaufbeuren verbracht. 10 Tage später verstirbt Wilhelmine in Kaufbeuren. Ihr Körpergewicht betrug zum Zeitpunkt ihres Todes 30 kg.
Ihr Sohn Wilhelm erhält das lapidare Telegramm: „Mutter verstorben. Beerdigung Mittwoch 13 Uhr Kaufbeuren, 110 Mark Beerdigungskosten mitbringen. Anstalt Kaufbeuren, 17.1.1944“
Wir müssen annehmen, dass das Betreuungspersonal in Günzburg und Kaufbeuren die alte Frau vernachlässigt und beim Tod von Wilhelmine Messer „nachgeholfen“ hat. Offensichtlich erhielt Wilhelmine seit 1942 die sogenannte E-Kost.
Der Kaufbeurer Anstaltsleiter Dr. Valentin Faltlhauser entwickelt 1941 nach der Beendigung der Ermordung „nicht lebenswerten Lebens“ in Grafeneck und Hartheim, der sogenannten Aktion T4, die sog. Hungermethode, um Patienten zu töten. Sie erhalten über Monate hinweg nur noch dünne Suppe – in Wasser gekochte Gemüsereste – und sind nach wenigen Monaten so geschwächt, dass sich aus der kleinsten Erkältung eine tödliche Lungenentzündung entwickelt.19
Es ist möglich und wahrscheinlich, dass Wilhelmine Messer zudem Luminal verabreicht worden ist.
© Biografie erstellt von: Dr. Bernhard Lehmann StD Gegen Vergessen – Für Demokratie RAG Augsburg-Schwaben 86368 Gersthofen, Haydnstr. 53 bernhard.lehmann@gmx.de
2021
Historisches Archiv des Bezirkskrankenhaus Kaufbeuren (Hist. Arch BKh Kaufbeuren)
– Patientenakte Wilhelmine Messer Nr. 6327
Hist. Archiv Vaihingen an der Ems
– Mitteilung von Andrea Majer vom 16.6.20.
Stadtarchiv Augsburg (StadtAA)
Meldekarten (MK):
– Wilhelmine Messer
– Jakob Messer
– Wilhelm Friedrich Messer
Meldebogen (MB):
– Bartholomäus Messer
Initiativkreis Stolpersteine für Augsburg und Umgebung
(https://stolpersteine-augsburg.de/)
– Foto: Stolperstein
Michael von Cranach/Petra Schweizer-Martinschek, Die NS-„Euthanasie“ in der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren-Irsee, in: Stefan Dieter (Hg.), Kaufbeuren unterm Hakenkreuz, Kaufbeurer Schriftenreihe Band 14, Thalhofen 2015, S. 270-287.
Michael von Cranach/Petra Schweizer-Martinschek/Petra Weber, „Später wurde in der Familie darüber nicht gesprochen.“ Gedenkbuch für die Kaufbeurer Opfer der nationalsozialistischen „Euthanasie“-Verbrechen, Neustadt/Aisch 2020.