Augsburg, Kaiserstraße 53 (heute Konrad-Adenauer-Allee)
Würzburg
Nürnberg (Gefängnis)
Dachau
Majdanek
Erinnerungsband am 24.7.2024, Augsburg, Kaiserstraße 53
Otto Hett
geb. 5. April 1913 in Augsburg,
gest. 24. Juli 1944 bei Kowalin (zwischen Auschwitz und Lublin)
Im Zuge des Vormarsches der Roten Armee wurde das KZ Majdanek im Sommer 1944 geräumt. Die verbliebenen Häftlinge des Todeslagers schickte die SS auf einen „Evakuierungsmarsch“ Richtung Auschwitz. Unter ihnen war auch der 31-jährige Otto Hett. Im Juli 1944 wurde er auf diesem Marsch von der SS erschossen.
Für seine Familie blieb sein Schicksal zunächst ungeklärt: Auf dem Fragebogen der Militärregierung vermerkt sein Vater Otto Hett sen., sein Sohn sei im KZ vermisst.
Wie hatte das Leben des jungen Augsburgers Otto Hett diesen Verlauf nehmen können?
Seine elterliche Familie
Der Vater war Otto Hett sen., geb. 9.4.1885 in München. Er übersiedelte am 1.3.1910 von Wien nach Augsburg und wurde städtischer Diplomingenieur, Oberbauamtmann, Oberbaurat und Baudirektor. Die Heirat mit seiner Ehefrau Maria, geb. Grünwald, geb. 20. Juni 1885 in München, erfolgte am 18.7.1910 in München.
Der Sohn Otto Hett wurde am 5.4.1913 zusammen mit seinem Zwillingsbruder Christian in Augsburg geboren. Sein Bruder starb am Tag der Geburt. Otto Hett wurde nach römisch-katholischem Ritus getauft.
Nach der Zwillingsgeburt 1913 bekam das Ehepaar Hett einen weiteren Sohn Walter im Jahr 1918.
Schule und Studium
Otto Hett besuchte zunächst die Volksschule St. Georg und bestand 1932 am Realgymnasium Augsburg (heute Peutinger-Gymnasium) sein Abitur.
Noch am Ende seiner Schulzeit trat er laut Unterlagen der Familie am 1.10.1931 in die NSDAP ein, bis 30.4.1935 war er Mitglied im NSKK (Nationalsozialistisches Kraftfahrkorps). Die Beweggründe hierfür sind bisher nicht bekannt.
Nach seinem Schulabschluss in Augsburg schrieb sich Otto Hett an der Medizinischen Fakultät der Universität Würzburg ein. Er schloss seine medizinische Ausbildung in Würzburg laut Studienbuch und Familienunterlagen am 18.10.1937 mit der Ärztlichen Prüfung (Staatsexamen) ab und erhielt seine Bestallung (Approbation) als Arzt am 19.10.1938. Seine Promotion mit dem Titel „Zur Frage der Beteiligung des Bindegewebes und der Muskelfasern an der Säurekontraktur des quergestreiften Muskels“ hatte er schon 1937 abgeschlossen. Sie wurde im gleichen Jahr als Publikation des Physiologischen Instituts der Medizinischen Fakultät Würzburg veröffentlicht, als Vorstand des Instituts wurde sein Doktorvater Prof. Dr. Edgar Wöhlisch genannt. Die Promotionsurkunde wurde ihm allerdings nie ausgehändigt. (Universität Würzburg (Hg.): Die geraubte Würde. Die Aberkennung des Doktorgrades an der Universität Würzburg 1933-1945 Würzburg 2011, S. 126-127; S. 170)
Hett war von Oktober 1935 bis März 1938 zunächst als Kurshelfer, später als a. o. Assistent und Praktikant – beides vermutlich unbezahlte Tätigkeiten - bei Prof. Wöhlisch tätig. 1938 trat er ein Forschungsstipendium in der italienischen Schweiz an, welches durch Prof. Wöhlisch ermöglicht worden war.
Differenzen zwischen Otto Hett und Edgar Wöhlisch - Denunziation von Otto Hett bei der Gestapo
Es hatte demnach zunächst ein gutes Einvernehmen zwischen Hett und Wöhlisch bestanden. Wöhlisch wurde 1937 Mitglied der NSDAP, und das Verhältnis zwischen Hett und Wöhlisch kühlte sich im Laufe des Jahres 1938 deutlich ab. Worin die Gründe im Einzelnen lagen, ist nicht eindeutig geklärt. Zwischen ihm und Wöhlisch soll es wissenschaftliche Streitigkeiten gegeben haben, wohl auch persönliche Differenzen. Jedenfalls lehnte Wöhlisch mehrere Gesuche Hetts für spätere Assistenzen bei ihm ab. Als Otto Hett von der Schweiz aus um die Zusendung seines Doktordiploms bat, verweigerte ihm dies der Dekan mit dem Hinweis auf Streitigkeiten mit seinem ehemaligen Vorgesetzten, Professor Wöhlisch. Inzwischen hatte dieser Hett nicht nur bei seiner Arbeitsstelle in der Schweiz, sondern zudem bei der Gestapo angezeigt. Wöhlisch erhob laut heute vorliegenden Unterlagen der Universität Würzburg (siehe Fußnote 1) folgende Vorwürfe:
Otto Hett habe sich das Ehrenzeichen der Hitlerjugend erschwindelt, er habe geäußert, er werde nach Russland gehen, würde verdächtige Auslandsbeziehungen unterhalten und sich gegen das NS-Regime äußern.
Hett wurde am 6.12.1938 von der Gestapo verhaftet und in Nürnberg eingesperrt. Sein Zimmer bei den Eltern in Augsburg, Kaiserstraße 53 (heute Konrad-Adenauer-Allee), wurde durchsucht. Dabei seien Briefkopien gefunden worden, u. a. ein Schreiben an den damaligen Kardinalstaatssekretär Eugenio Pacelli (den späteren Papst Pius XII) und an eine private Jesuitenuniversität in Bilbao. Hett habe darin auf das schwere Schicksal der deutschen Katholiken, insbesondere auf fehlende Arbeitsmöglichkeiten für junge katholische Mediziner, hingewiesen, er erwog wohl eine Tätigkeit im Ausland. Schon in seiner Studienzeit interessierte er sich für die Arbeit in der Mission. Offenbar wurden ihm diese Briefe zum Verhängnis.
Verurteilung aufgrund des „Heimtückegesetzes“, Inhaftierung in Nürnberg und Dachau, Überstellung in das Konzentrationslager Majdanek/Lublin)
Ein Sondergericht in Bamberg verurteilte Otto Hett am 5.6.1939 auf Grundlage des „Heimtückegesetzes“, welches kritische Äußerungen gegen das NS-Regime unter Strafe stellte. Nach Verbüßen einer 14-monatigen Haftstrafe wurde Otto Hett nicht entlassen, sondern am 6.4.1940 in das KZ Dachau verbracht. (Öffentlich bekannt wurde dieser Vorgang durch einen "Spiegel"-Artikel: "Ungünstige Laienurteile", in: Der Spiegel, Heft 15, 1953, S.14, spiegel.de/politik/unguenstige-laienurteile-a-7eOb4edf-0002-0001-0000-000025656116. Vgl. auch den Wikipedia-Artikel über Edgar Wöhlisch. Laut Unterlagen aus der Familie konnten ihn die Eltern am 20.4.41 („Besuchszeit 11.50-12:35 Uhr“) besuchen, sein Bruder wurde nicht eingelassen.
Während seiner Haft in Nürnberg leitete das Ärztliche Bezirksgericht Bayern auf Grund von Hetts „feindlicher Einstellung gegen Staat und Partei“ am 25. August 1939 ein standesrechtliches Verfahren ein mit dem Ergebnis, Hett sei „unwürdig, den ärztlichen Beruf auszuüben“. Otto Hett legte dagegen Berufung ein. Diese wurde am 27. Februar 1941 abgelehnt.
Am 8.12.1941 folgte die Überstellung ins Konzentrationslager Majdanek bei Lublin. Dort erhielt Hett den Auftrag, sich als inhaftierter Arzt um seine Mithäftlinge zu kümmern. Im Januar 1943 wurde in Majdanek ein Lazarett für sowjetische Kriegsgefangene errichtet, damit diese der deutschen Kriegswirtschaft baldmöglichst als Arbeitskräfte zur Verfügung stehen sollten; die Sterblichkeitsrate war aufgrund der katastrophalen hygienischen Lage (v. a. Flecktyphus) im Lazarett sehr hoch. Die SS-Ärzte im Lager hatten angesichts der Ansteckungsgefahr kein Interesse, diese Versorgung selbst zu übernehmen. Die medizinische Betreuung wurde 30 Häftlingen übertragen, denen Otto Hett als Revierkapo vorstand.
Das KZ Lublin wurde angesichts der sich nähernden Roten Armee bereits in der ersten Jahreshälfte 1944 geräumt. Die letzte Häftlingsgruppe – darunter auch Otto Hett – wurde am 22. Juli 1944 aus dem Lager auf einen Marsch in Richtung Auschwitz getrieben (mehr als 300 km). Die Kolonne machte Halt im Dorf Kowalin.
Gerhard Hett, der Neffe von Otto Hett, hat sich intensiv mit dem Schicksal seines Onkels beschäftigt. Er hat als Jurist auch erwirkt, dass 1998 – also fast 60 Jahre später – das Urteil gegen Otto Hett wegen „Heimtücke“ endlich aufgehoben wurde.
Er hat zwischen 1998 und 2000 die Gedenkstätte Majdanek und auch das Dorf Kowalin mehrfach besucht und in Majdanek und Kowalin recherchiert, er konnte dort auch polnische Veteranen treffen. In der Familie von Otto Hett sowie aus direkten Angaben aus der Gedenkstätte Majdanek kann folgender Ablauf als gesichert gelten: Die Marschkolone kam am 23. Juli in Kowalin in einer alten Ziegelei unter. Dorthin brachte Zivilbevölkerung u. a. Essen und auch Zivilkleidung. Am Folgetag, als die Marschkolonne weitermarschierte, haben vier Häftlinge – darunter die Ärzte Otto Hett und Franciszek Gabriel – einen Fluchtversuch unternommen. Zwei konnten fliehen, Hett und Gabriel wurden von den Begleitsoldaten erschossen. Ihre Leichen wurden am Straßenrand verscharrt.
Aufarbeitung in Würzburg
Der Senat, die Erweiterte Hochschulleitung und der Hochschulrat der Universität Würzburg haben sich in mehreren Sitzungen 2011 mit der Entziehung des Doktorgrades für jüdische und politisch missliebige Studierende während des Nationalsozialismus befasst und öffentlich und einstimmig den folgenden Beschluss gefasst:
Die in den Jahren von 1933–1945 an der Universität Würzburg vollzogenen, auf die nationalsozialistische Ideologie gegründeten Doktorgradentziehungen sowie die Nichtaushändigung von Dissertationsdiplomen stellen willkürliche Menschenrechtsverletzungen dar. Sie stehen in krassem Widerspruch zu den Grundsätzen des Rechtsstaats, der Wissenschaftsfreiheit und des humanistisch-akademischen Geistes der Universität. Die Universität stellt hiermit ausdrücklich fest, dass diese Unrechtsakte politischer Verfolgung von Anfang an nichtig waren. Es ist das ausdrückliche Anliegen, allen Opfern der Depromotionen individuell Gerechtigkeit widerfahren zu lassen und ihr persönliches und wissenschaftliches Andenken lebendig zu erhalten.
Im Rahmen der Aufarbeitung der Geschehnisse hat die Universität eine Liste der Namen der Betroffenen ermittelt und veröffentlicht. Auch Otto Hett wird auf dieser Liste genannt. (uni-wuerzburg.de/fileadmin/33000300/Bilder/Publikationen/Namensliste_Depromotionen-Website.pdf) Dr. Hett wird auf der Liste mit folgendem Vermerk geführt: „Doktorurkunde nicht ausgehändigt“.
Die Dissertation von Otto Hett wurde mit Datum 1937 gedruckt. (Die Dissertation, in der UB Würzburg vorhanden, erschien als Vorabdruck aus "Pflügers Archiv für die gesamte Physiologie des Menschen und der Tiere", 239.Band, 6.Heft; in dieser Zeitschrift wurde sie außerdem textidentisch 1938 gemeinsam mit Ko-Autor Edgar Wöhlisch gedruckt. Diese Version ist zuganglich bei link.springer.com/article/10.1007/BF01755033) In den Aufzeichnungen der Familie Hett heißt es zur Promotion von Otto Hett: „27.03.1938 (26.11.1946): Promotionsurkunde (summa cum laude).“ Leider ist die Urkunde offenbar nicht erhalten.
Erinnerungen in Majdanek
Otto Hett arbeitete in Majdanek als Häftlingsarzt, der sich für seine Mitgefangenen bei den SS-Aufsehern um Erleichterungen bei den Haftbedingungen bemühte. Zeitzeugen berichten über sein Wirken und seinen Charakter. Der polnische Häftlingsarzt Dr. Kosibowicz beschreibt in dem Buch „Unser Schicksal – eine Mahnung für euch. Berichte und Erinnerungen der Häftlinge von Majdanek“ im Kapitel „Häftlingsärzte“ den jungen Otto Hett als „rastlos und mutig“. Er war demnach in der Lage, Widersprüche in der SS-Kommandostruktur zugunsten der Inhaftierten auszunutzen: „Dr. Hett wies in den Meldungen an die Lagerführung auf die Verminderung der Häftlingsarbeitskraft infolge der durch Kapos verursachten Körperverletzungen hin. Er brandmarkte das als Sabotage.“ Otto Hett erreichte laut Dr. Kosibowicz auch, dass die Häftlingsärzte, die in ihrer übergroßen Mehrheit Polen waren, im Lager Fortbildungsvorträge hören und halten durften.
Frau Bianca Brendel aus Augsburg ist während eines Forschungsaufenthalts in Majdanek auf den Fall Otto Hett aufmerksam geworden. Sie zitiert den polnischen Häftling Jerzy Kwiatkowski, der sich an eine Situation mit Hett erinnert. Darin macht sich der Funktionshäftling und Lagerälteste Theodor Hessel über den Zustand eines sowjetischen Generals lustig:
"Neben mir steht Dr. Hett, ein Arzt, ein Häftling von Feld II, wo es nur sowjetische Invaliden gibt. Heute ist er hier zum Dienst eingeteilt. Er war ein ehemaliger Nazi, der im Konzentrationslager von seinen nationalsozialistischen Neigungen geheilt worden war. Mit Verachtung blickt er auf Hessel. Er hatte Hessels Einfälle mich zu demütigen mehrmals miterlebt und mir mit ruhiger Stimme geraten, mir keine Sorgen zu machen. Ich wende mich nun an Hett und sage zu ihm: Ich frage mich, wie ein deutscher General aussehen würde, wenn er monatelang gehungert hätte, sich nicht hätte waschen dürfen, in Lumpen gekleidet wäre und keine medizinische Versorgung erhalten hätte. Hett nickt stumm." (Kwiatkowski, Jerzy: 485 dni na Majdanku, Lublin 2018, S. 344. (Übersetzung Bianca Brendel)
In der Gedenkstätte des Konzentrationslagers Majdanek werden das Brillenetui und die Schreibmaschine von Dr. Otto Hett ausgestellt. Außerdem befindet sich im Besitz der Familie sowie in Majdanek eine Reihe von Briefen, u. a. von Therese Götz, der Verlobten von Otto Hett. Ausstellungstafeln informieren über den beliebten Arzt mit Häftlingsstatus.
Seine Entscheidung, die Macht, die er im Lager über seine Mithäftlinge hatte, nicht gegen diese auszunutzen – wie es viele in einer ähnlichen Position taten –, sondern sie zu ihren Gunsten einzusetzen, ist sicher ein wichtiger Grund, weshalb die Gedenkstätte Majdanek Otto Hett mit einer Gedenktafel ehrt.
Gedenken in Augsburg
Am 23. Juli 2024 fand in Abstimmung mit Otto Hetts Nichte eine Gedenkveranstaltung zu Dr. Otto Hett im Peutinger-Gymnasium, seiner früheren Schule, statt. Am 24. Juli, dem 90. Todestag von Dr. Otto Hett, wurde in der Konrad-Adenauer-Allee 53, seinem letzten freiwilligen Wohnort, ein Erinnerungsband aufgestellt.
Internet
• Arolsen Archives: Häftlingspersonalbogen Otto Hett, Dachau, 1.1.6.2/10661356/ ITS Digital Archive (Dank an Bianca Brendel).
• https://de.wikipedia.org/wiki/Edgar_Wöhlisch, gef. 7.7.2024.
• Jerzy Kwiatkowski https://ksiegarnia.majdanek.eu/pl/ebooki/190-485-dni-na-majdanku.html, gef. 06.07.2024
Gedruckte Quellen
• Der Spiegel, Heft 15, 1953, S. 14, (Autor unbekannt)
• Tomasz Kranz et al., Unser Schicksal – eine Mahnung für euch … : Berichte und Erinnerungen der Häftlinge von Majdanek. Lublin: Państwowe Muzeum na Majdanku, 1994.
• Janusz Mozdzan, Postgeschichte des Konzentrationslagers Lublin-Majdanek: über das Lager, Briefe und Menschen = Historia Poczty Obozu Koncentracyjnego na Majdanku : o obozie, ludziach i listach, Manching: Poststempelgilde, 2010.
• Universität Würzburg (Hrsg.) Die geraubte Würde: Die Aberkennung des Doktorgrads an der Universität Würzburg 1933-1945, Würzburg 2011.
Unveröffentlichte Quellen
• Umfangreiche Unterlagen zu Otto Hett, darunter Studienbuch, persönliche Briefe, Fotos, Dokumente aus der NS-Zeit sowie den 60er-90er Jahren mit akribischer Auflistung von wichtigen Lebensdaten, Exemplar der Dissertation (Archiv der Familie).
• Bianca Brendel, Aufzeichnungen aufgrund ihres Forschungsaufenthaltes in der Gedenkstätte Majdanek (Lublin) (BA in Slavistik).
Biografie verfasst von Dr. med. Elisabeth Friedrichs, ErinnerungsWerkstatt Augsburg, mit hilfreicher Unterstützung von Georg Feuerer, Stadtarchiv Augsburg, und Bianca Brendel
7. Juli 2024
Abbildungen:
Meldebogen Otto Hett sen. (Stadtarchiv Augsburg)
Jugendfoto Otto Hett, 5.9.1930 (privat)
Schreibstubenkarte Otto Hett aus Dachau (Arolsen Archives)
Gedenktafel Majdanek für Otto Hett (Foto: Elisabeth Kahn)