Augsburg, Leitershofer Straße 15
Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren
Manfred Dax ist der Sohn des ungarischen Staatsangehörigen und Webermeisters Johann Wolf1 und der Luftnachrichtenhelferin Dora Dax.2 Dora ist 4 Jahre jünger als Johann und bei der Geburt von Manfred gerade erst 19 Jahre alt.3
Die Beziehung zwischen beiden ist nur eine Episode. Johann Wolf weilt aus beruflichen Gründen nur zeitweise in Augsburg. Seit Weihnachten 1938 ist er mit der Ungarin Elisabeth geb. Lenpyel verheiratet. Johann Wolf bekennt sich zur „Vaterschaft des von der ledigen Theodora Agnes Dax außerehelich geborenen Kindes Manfred“.4
Als Manfred geboren wird, weilt sein Vater wieder in Ungarn; im Mai 1942 meldet sich Johann Wolf endgültig nach Ungarn ab.5
Bald fällt der Mutter auf, dass ihr Sohn nicht auf seine Umwelt reagiert, weshalb sie Mitte September 1940 den Kinderarzt aufsucht.6 Dort wird sie vertröstet. Kurz vor der Vollendung des 1. Lebensjahres treten bei dem Kind regelmäßig Krämpfe auf, die sich in kurzen Abständen wiederholen.
Die Ärzte wissen lange keinen Rat. Erst im Oktober 1943 diagnostiziert Dr. Prückner einen angeborenen Gehirnschaden und zerebrale Krämpfe. Eine Besserung sei nicht zu erwarten.7
Mitte November 1943 wird das Kind in die Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren eingewiesen. Seine Mutter Dora informiert Anfang Dezember den Anstaltsleiter Dr. Valentin Faltlhauser:
„Auffällig an dem Kind war, dass es nie auf vorgehaltene Gegenstände oder Unterhaltung reagierte. ... Einen Tag nach dem Impfen traten Krämpfe auf, die sich oft 10–15-mal wiederholten. Das Kind schrie furchtbar, wurde ganz weiß und der Körper war zusammengekrampft. Diese Krämpfe dauerten bis heute an. Voriges Jahr war das Kind zweimal in der Kinderklinik in Oberhausen, das erste Mal hieß es, der Kleine sei überernährt. Herr Professor Auernhammer sagte mir, das Kind hätte einen Schädeldruck, das zweite Mal überwies Herr Dr. Prückner nochmals das Kind in die Klinik zur Beobachtung. ... Das Kind blieb aber immer gleich. Die Anfälle kamen genau wieder so wie zuvor. Der Kleine hat oft den ganzen Tag vor sich hin geweint, man merkte direkt, dass dem armen Kind was weh tut.
Erkannt hat das Kind niemand, es blieb teilnahmslos ….“ Dora Dax 8
Knapp 5 Wochen nach seiner Einlieferung teilt Dr. Faltlhauser der Mutter kurz vor Weihnachten mit:
Sehr geehrte Frau Dax,
Ich muss ihnen leider mitteilen, dass der körperliche Zustand ihres Kindes Manfred in letzter Zeit sehr stark zurückgegangen ist. Der Junge ist sehr blass, der Naseneingang ist entzündet, es zeigt sich starke eitrige Nasensekretion. Seit einigen Tagen bestehen auch Durchfälle mit leichten Temperatursteigerungen. Der Zustand ist nicht unbedenklich. Gez. Faltlhauser Direktor9
Noch am gleichen Tag findet sich im Patientenbeobachtungsbogen der Eintrag: 22.12.43 heute Morgen 1.45 Uhr Exitus
Als Todesursache wird Meningoenzephalitis partialis lobi sinistri (Entzündung der linken Gehirnhälfte und der Hirnhäute) festgehalten. Besonders Menschen mit geschwächtem Immunsystem können an schwerer Meningoenzephalitis erkranken.
Seit dem 18. August 1939 gibt es eine „Meldepflicht für missgestaltete usw. Neugeborene“. Grundlage hierfür war ein Runderlass des Reichsministers des Innern vom 18. August 1939. Demnach sollen Hebammen und leitende Ärzte der Entbindungsstationen und Kinderkrankenhäuser behinderte Neugeborene und Kinder bis zum unvollendeten 3. Lebensjahr mit der Diagnose Idiotie, Mongolismus, Mikrozephalie, Hydrozephalus, Missbildungen jeder Art, besonders von Gliedmaßen, schwere Spaltbildungen des Kopfes und der Wirbelsäule usw. erfassen und an die zuständigen Gesundheitsämter melden.10
Für ihre „Mühewaltung“ erhielten die Hebammen eine Entschädigung von 2 RM je Anzeige. 11
Diese Meldebögen werden an die „Kanzlei des Führers“, Schließfach 101 des Berliner Postamts W 9 in der Linkstraße, geschickt, die diese Bögen an Gutachter weiterleiteten.
Gleichzeitig gründeten die Organisatoren des Reichsausschusses die ersten drei Sonderstationen in den Psychiatrischen Anstalten, darunter befand sich auch Eglfing-Haar mit dem euphemistischen Namen „Kinderfachabteilung“.
Von den ca. 100.000 eingegangenen Meldebögen sortierten medizinische Laien ca. 80.000 aus, die restlichen 20.000 wurden dem „Reichsausschuss zur wissenschaftlichen Erfassung von erb- und anlagebedingten schweren Leiden“ in Berlin vorgelegt. Entschieden die drei Gutachter des „Reichsausschusses“, die Professoren Werner Catel, Hans Heinze und Ernst Wentzler, auf „Behandlung“ bzw. „Beobachtung“ des Kindes, hatte der Amtsarzt vor Ort für die Einweisung des Kindes in eine der 37 „Kinderfachabteilungen“ in den Heil- und Pflegeanstalten, Kinderkrankenhäusern und Universitätskliniken zu sorgen.12
Den Eltern wurde vorgegaukelt, ihre Kinder würden eine besondere Betreuung und Behandlung in speziell eingerichteten Fachabteilungen erhalten.
Noch in der ersten Hälfte des Jahres 1941 wurde das Lebensalter der betroffenen Kinder auf 16 Jahre heraufgesetzt und der Kreis der Betroffenen auf alle sog. Psychopathen und schwer erziehbare Fürsorgezöglinge ausgeweitet.13
Festzuhalten ist, dass das Urteil über Leben oder Tod der Kinder durch die Professoren anhand des Meldebogens getroffen wurde, ohne in die jeweilige Krankenakte Einsicht genommen zu haben.
Die Tötung der Kinder in den „Kinderfachabteilungen“ erfolgte durch überdosierte Barbiturat-gaben wie Luminal, Veronal, Trional oder Morphin, die unter das Essen der Patienten gemischt oder als angebliches „Anti-Typhus-Mittel“ gespritzt wurden. Atemlähmungen, Kreislauf- und Nierenversagen oder Lungenentzündungen waren die Folge. Den Eltern konnte auf diese Weise eine scheinbar natürliche, unmittelbare Todesursache bestätigt werden.14
Zwischen 5.000 bis 10.000 Kinder fielen zwischen 1939 und 1945 im Deutschen Reich diesem geheimen Mordprogramm zum Opfer. In Bayern wurden nachweislich 694 Kinder ermordet. Die Gehirne der toten Kinder landeten in der Deutschen Forschungsanstalt (DFA) für Psychiatrie in München bzw. im Kaiser Wilhelm Institut für Hirnforschung in Berlin-Buch.15
Mit Billigung Direktor Faltlhausers injizierte und infizierte Prof. Georg Hensel, Oberarzt der Allgäuer Kinderheilstätte Mittelberg-Oy, seit November 1942 in Kaufbeuren-Irsee Versuchskinder mit lebenden Krankheitserregern im Rahmen seiner Versuche zur Tuberkulose-Schutzimpfung. Die Kinder litten und starben qualvoll. Im Rahmen seiner Habilitationsschrift hatte Hensel betont, „dass für die Vakzination vorläufig nur Säuglinge in Frage kommen, die schwere körperliche und geistige Mißbildungen aufweisen und deren Lebenserhaltung für die Nation keinen Vorteil bedeutet“.16
Wenn Kinder in Kaufbeuren zur Beobachtung in die am 5. Dezember 1941 eröffnete Kinderfachabteilung eingewiesen werden, ist Dr. Valentin Faltlhauser der zuständige Arzt. Entweder führt er selbst die tödliche Injektion aus oder er erteilt den Todesbefehl an die zuständigen Pfleger oder Krankenschwestern. In Kaufbeuren ist Dr. Faltlhauser für die Tötung von mindestens 210 Kindern verantwortlich. Die Kinder erhalten Luminal in Tablettenform oder im Essen beigemischt, fallen in Bewusstlosigkeit und versterben nach 2–5 Tagen. Manchmal wird auch Morphium-Skopolamin gespritzt.17
Faltlhauser war davon überzeugt, die Menschen „von ihrem Leiden zu erlösen“, indem er sie der „Euthanasie“ zuführt. Er begründete im Gerichtsprozess in Augsburg nach dem Krieg sein Vorgehen auch mit seinen persönlichen Erfahrungen, er habe nämlich 2 behinderte Enkel gehabt und „gewünscht, dass das Leben dieser Kinder bald zu Ende geht, weil ich unter deren Leiden selbst schwer gelitten habe.“18
Das Gehirn wird an die Deutsche Forschungsanstalt für Psychiatrie versandt, die am 7. März einen Untersuchungsbericht an Dr. Faltlhauser zurückschickte.19
Aller Wahrscheinlichkeit nach wurde der Leichnam von Manfred Dax eingeäschert und in Kaufbeuren bestattet.
Wir wollen mit einem Stolperstein an Manfred Dax erinnern.
© Biografie erstellt von Dr. Bernhard Lehmann Gegen Vergessen - Für Demokratie RAG Augsburg-Schwaben
Dora Dax Augsburg
Leitershoferstr. 15 Augsburg, den 17.11.43
an Dr. Valentin Faltlhauser
Sehr geehrter Herr Doktor!
Ich habe gestern Nachmittag mein Kind bei Ihnen eingeliefert. Wie man mir sagte, ist der Einweisungsschein, welcher sich bei der Betriebskrankenkasse des Reichs, München, zur Unterschrift befindet, noch nicht in Kaufbeuren eingelaufen.
Ich lege ihnen ein Gutachten des behandelnden Arztes bei. Es wäre mir angenehm gewesen, persönlich mit ihnen über den Zustand des Kindes zu sprechen, Sie waren aber nicht anwesend. Das Kind bekommt täglich 5-6 mal Anfälle, die sich wie nachstehend äußern: Es zieht die Beine an den Leib, schreit und streckt die Arme, dann streckt sich der ganze Körper, wird momentan steif, das Kind verdreht die Augen und nach 1-2 Minuten kommt es wieder zu sich. Festes kann es nicht essen, nur Brei, Suppe, usw.
Nach Aussagen des Arztes muss das Kind sehr viel leiden. Die Krämpfe sind einen Tag nach dem Impfen aufgetreten, gesprochen und reagiert wie andere Kinder hat der Kleine schon vorher nicht.
Ich ersuche Sie abschließend, mir etwaige Veränderungen gleich mitzuteilen.
Heil Hitler, Dora Dax.
Fachärztliches Gutachten
Das Kind Manfred Dax, geb. 5.5.40 steht seit 19.9.40 bei mir in Behandlung, bzw. Beobachtung. Es ist infolge eines angeborenen Hirnschadens in seiner körperlichen und geistigen Entwicklung sehr stark zurückgeblieben und leidet an sich häufig wiederholenden zerebralen Krämpfen. Es besteht ein erheblicher Intelligenzdefekt (Debilitas) und eine hochgradige Blutarmut (Anaemie). Mit einer Besserung des Zustandes ist nicht zu rechnen.
Gez. Prückner
Das Kind Manfred wog bei der Geburt 5 ¾ Pfund. Gestillt wurde es ungefähr 3 Wochen. Die Gewichtszunahme war normal. Auffällig an dem Kind war, dass es nie recht auf vorgehaltene Gegenstände oder Unterhaltung reagierte. Kurz vor Vollendung des ersten Lebensjahres kam das Kind zum Sitzen und dabei legte es immer das Köpfchen vorwärts auf die Bettdecke. Auch hatte der Kleine ständig die Händchen am Kopf, als wollte er etwas wegnehmen. Einen Tag nach dem Impfen traten Krämpfe auf, die sich oft 10-15mal wiederholten. Das Kind schrie furchtbar, wurde ganz weiß und der Körper war zusammengekrampft. Diese Krämpfe dauerten bis heute, nur einmal blieben sie auffallender Weise ein paar Tage aus. Voriges Jahr war das Kind zweimal in der Kinderklinik in Oberhausen, das erste Mal hieß es, der Kleine sei überernährt. Herr Professor Auernhamer sagte mir, das Kind hätte einen Schädeldruck, das zweite Mal überwies Herr Dr. Prückner nochmals das Kind in die Klinik, zur Beobachtung. Wir konnten es wieder mitnehmen und auf die Meinung, wann das Kind nicht besser wird dürfte man ihn doch etwas geben, wurde erwidert: Das Kind kann sich entwickeln. Es blieb aber immer gleich. Die Anfälle kamen genau wieder so wie zuvor. Bis heute haben wir noch keine Besserung bemerkt, im Gegenteil. Die Füßchen wurden immer schwächer und das Kind immer matter. Der Kleine hat oft den ganzen Tag vor sich hin geweint, man merkte direkt, daß dem armen Kind was weh tut.
Erkannt hat das Kind niemand, es blieb teilnahmslos ……
Dora Dax
Historisches Archiv des Bezirkskrankenhaus Kaufbeuren (Hist. Arch BKh Kaufbeuren)
– Patientennr. 13498 Manfred Dax
Stadtarchiv Augsburg (StadtAA)
Meldekartei (MK):
– Johann Dax
Meldekartei II (MK II):
– Dora Dax
– Johann Wolf
https://www.aerzteblatt.de/archiv/24708/NS-Kindereuthanasie-Ohne-jede-moralische-Skrupel
https://www.zukunft-braucht-erinnerung.de/aktion-t4/
https://www.bpb.de/kurz-knapp/hintergrund-aktuell/295244/vor-80-jahren-beginn-der-ns-euthanasie-programme/
Michael von Cranach, In Memoriam. Katalog zur Ausstellung in Gedenken an die Opfer des Nationalsozialistischen Euthanasieprogramms aus Anlass des 20. Weltkongresses für Psychiatrie in Hamburg, Hamburg 1999.
Michael von Cranach/Petra Schweizer-Martinschek, Die NS-„Euthanasie“ in der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren-Irsee, in: Stefan Dieter (Hg.), Kaufbeuren unterm Hakenkreuz, Kaufbeurer Schriftenreihe Band 14, Thalhofen 2015, S. 270-287.
Ernst Klee, „Euthanasie“ im Dritten Reich. Die „Vernichtung unwerten Lebens“; 3.Auflage, Frankfurt 2018; insbesondere Kap. X, S. 334-385.
Ulrich Pötzl, Sozialpsychiatrie, Erbbiologie und Lebensvernichtung. Valentin Faltlhauser, Direktor der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren-Irsee in der Zeit des Nationalsozialismus, München 1995.
Dietmar Schulze, „Auch der ‚Gnadentod‘ ist Mord. Der Augsburger Strafprozess über die NS-„Euthanasie“-Verbrechen in Kaufbeuren und Irsee, Irsee 2019.
Rainer Jedlitschka, Patrik Rieblinger (Hrsg.), Die Erbpolizei im Dritten Reich. Staatliche Gesundheitsämter in Schwaben. Eine Ausstellung des Staatsarchivs Augsburg in Zusammenarbeit mit dem Gesundheitsamt im Landratsamt Neuburg-Schrobenhausen, 5. März bis 30. April 2020 im Foyer des Staatsarchivs Augsburg.