Dinkelscherben (20.3.1908)
Augsburg, Zollernstr. 84/0 (23.11.20)
Augsburg, Donauwörther Str. 95/II (23.6.22)
Augsburg, Landvogtstraße 5/I bei Schöberle (24.7.23)
Kaufbeuren (14.12.31 Ehefrau abgem.)
Augsburg, Landvogtstraße 5/0 II. (19.12.39 Ehefrau zugezogen)
Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren
Tötungsanstalt Grafeneck
Karoline Weikhart geb. Fröschle ist am 19. August 1897 in Dinkelscherben geboren. Sie ist die Tochter des Malermeisters Eduard Fröschle aus Dinkelscherben (1866-1935) und der Hausfrau Ursula Fröschle, geb. Höfer (1869-1941) aus Ettelried1 , die am 19. August 1895 in Dinkelscherben geheiratet haben.2
Karoline hat 10 Geschwister. Der älteste Bruder Josef (geb. 1896) scheint früh verstorben zu sein, daneben hat Karoline 9 jüngere Geschwister: Maria (1898-1980) verh. Trieb, Theresia (1899-1972), Johann Nepomuk (1901-1945), Johanna, (geb. + verst. 1901), Eduard (geb. + verst. 1902), Bertha (1903-1987) verh. Würth, Anna (1905-1998) verh. Müller, Eduard (geb.+ verst. 1908) und Ida (1910-1985)3 , verh. Diemer.4
Welche schulische Laufbahn Karoline durchlaufen hat, wissen wir nicht. Es ist anzunehmen, dass sie keine höhere schulische Laufbahn eingeschlagen hat. Als sie 17 Jahre alt ist, begann schließlich der I. Weltkrieg. Jedenfalls hat Karoline hat keinen Ausbildungsberuf erlernt. Während des I. Weltkrieges arbeitet sie nach Aussagen des späteren Ehemannes Josef „bis zur Erschöpfung“. Sie näht Kleider, vermutlich für das deutsche Reichsheer. Karoline ist überaus gründlich und gewissenhaft, eher sogar penibel, und arbeitet damit notgedrungen auch zeitaufwendig.5
Karoline heiratet am 25. September 19226 in Dinkelscherben den Schlosser Josef Weikhart7 (1891-1954), dessen Familie ebenfalls aus Dinkelscherben stammt und 9 Geschwister hat8 , die das Kleinkindalter überleben. Das Rollenbild der damaligen Zeit war darauf ausgerichtet, Frauen baldmöglichst zu verheiraten. Sie sollten dem Ehemann den „Rücken freihalten und die Kinder erziehen“. Diesem Erwartungshorizont scheint Karolina aber nicht unbedingt entsprochen zu haben. Ihr Ehemann Josef charakterisiert sie in der Retrospektive als von Anfang an „bodenlos eigensinnig und zum Widerspruch neigend“9 .
Am 24. April 1924 kommt ihr Sohn Theodor in Augsburg zur Welt.10 Die kleine Familie wohnt in der Landvogtstraße 511 in Augsburg. 1925 wird ein weiterer Sohn Eduard12 geboren, 1930 der dritte Sohn Karl.13 1928 musste sie einen Abortus verzeichnen.14
Über das Familienleben der Weikharts wissen so gut wie nichts. Am 18. Januar 1931 allerdings kommt Karoline in die Psychiatrische Abteilung des Städtischen Krankenhauses Augsburg zur Beobachtung.15 Sie ist mittelgroß, gut genährt, mit kräftigem Knochenbau. Professor Port diagnostiziert nach einer Woche Schizophrenie. Karolina halluziniert, schläft kaum, beantwortet keine Fragen, ist ängstlich und schreckhaft. Eine Kommunikation mit ihr ist nicht möglich. Sie macht sich Vorwürfe und scheint an depressiver Melancholie erkrankt zu sein.
Prof. Port überweist Karoline in die Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren. Dort kommt man zur gleichen Diagnose. Karoline erhält 2x täglich Injektionen mit Luminal. Sie braucht viel Schlafmittel, stundenweise ist sie mit Bastflechten zu beschäftigen, manchmal mit Nähen.
Der Gesundheitszustand verändert sich all die Jahre so gut wie nicht. Sie schreibt Briefe, die ihre Verwirrtheit belegen. Es ist nicht möglich, mit ihr zu kommunizieren, der Grad des Autismus steigert sich permanent. Besuche ihres Ehemannes Josef müssen abgebrochen werden.
Das Amtsgericht Augsburg stellt Karoline Weikhart am 31.12.1935 „wegen geistiger Gebrechen unter Pflegschaft“, die allerdings am 13.5.1936 wieder aufgehoben wird.16
Aus den Patientenbögen der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren wird keine Veränderung ihres Verhaltens und ihrer Kommunikationsfähigkeit ersichtlich.
Ihr Ehemann Josef stellt beim Amtsgericht Augsburg aus diesem Grund den Antrag auf Ehescheidung. Das Gericht holt am 18. Juli 1939 von Anstaltsleiter Dr. Valentin Faltlhauser ein fachärztliches Gutachten über den Krankheitszustand von Karoline Weikhart ein. Dr. Faltlhauser diagnostiziert in seinem 10-seitigen Gutachten eine schizophrene Geistesstörung. Er kommt zur folgenden Schlussfolgerung:
„Es steht damit fest, dass Frau Karoline17 Weikhart geisteskrank ist – sie leidet an Schizophrenie – und dass die Krankheit einen Grad erreicht hat, dass die geistige Gemeinschaft zwischen den Ehepartnern aufgehoben ist, ohne dass deren Wiederherstellung jemals wieder möglich wäre. Der oben geschilderte Defekt der Persönlichkeit ist wie bereits bemerkt bleibend. Die bestehende gemütliche Verflachung, die Neigung zu immer wiederkehrenden Erregungszuständen, die geschilderte Denkstörung verhindern die Kranke dauernd in einer dem Wesen der Ehe entsprechenden Weise an dem gemeinsamen Fühlen und Wollen der Ehegatten teilzunehmen“.
Gez. Dr. Faltlhauser, Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren, 18.7.193918
Infolge des Gutachtens wird die Ehe zwischen Karoline Weikhart und Josef Weikhart „aus beiderseitigem Verschulden“ am 26. Oktober 1939 rechtskräftig geschieden. Josef Weikhart heiratet noch im gleichen Jahr Therese Meister aus Nürnberg.19
Karolines Schwester Ida Fröschle erkundigt sich bei den Kaufbeurer Pflegeschwestern nach dem Befinden von Karolina und bittet um ihre Maße, um ihr ein Kleid anfertigen zu lassen. Eine Woche später, am 17. Mai 1940 erhält sie von der Anstaltsleitung die Mitteilung, dass im Verhalten ihrer Schwester keine Veränderung eingetreten sei. Karoline könne mit Stricken beschäftigt werden: „Sie ist zeitweise sehr erregt, drängt fort, macht Verkehrtheiten … Sie … muss in dieser Zeit im Bett gehalten werden und braucht Beruhigungsmittel. Wir machen Sie darauf aufmerksam, dass Auskunft über die Kranke nur durch die Direktion gegeben werden kann. Wir bitten Sie daher, Anfragen stets an diese zu richten“.20
Der letzte Eintrag im Patientenbogen am 8.11.1940 lautet wie folgt:
„Hat viele Gefühlstäuschungen, glaubt eine Katze sei im Hals. Tageweise sehr erregt. Läuft unruhig hin und her. Muss an solchen Tagen isoliert werden. Wird verlegt.“21
Noch am gleichen Tag wird Karoline Weikhart zusammen mit 89 weiteren Frauen aus der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren, darunter 22 Frauen aus Augsburg, in die Tötungsanstalt Grafeneck verbracht und dort noch am gleichen Tag mit Gas ermordet.
In dem vom Standesamt Grafeneck ausgestellten Totenschein, welcher der Familie zugestellt wird, lautet das fingierte Todesdatum auf 28. November 1940, die genannte Todesursache „Grippe und Bauchfellentzündung“ ist ebenfalls fingiert. Der Totenschein wird vom Standesbeamten Zorn in Grafeneck ausgestellt.22
Mit der Durchführung der "Aktion T4"23 beauftragte Hitler 1939 den Leiter der Kanzlei des Führers, Reichsleiter Philipp Bouhler und seinen Leibarzt Prof. Dr. Karl Brandt, die einige Monate zuvor schon mit der Organisation der „Kindereuthanasie“ begonnen hatten.
Gemeinsam mit Ministerialdirigent Dr. Herbert Linden vom Reichsministerium des Inneren (RMdI) schufen sie eine getarnte Organisation mit komplizierten Strukturen und eigenem Personal.
Unter der Verantwortung von Bouhler und Brandt hatte das von Viktor Brack geleitete Hauptamt II in der Kanzlei des Führers die Oberleitung. Brack und seinem Stellvertreter Werner Blankenburg oblagen Auswahl und Einsatz des Personals sowie die Einrichtung der Euthanasieanstalten.
Dem Hauptamt II unterstand die Zentraldienststelle, nach der Adresse Berlin, Tiergartenstraße 4 später auch „T4“ genannt, mit Dietrich Allers als Leiter, die die organisatorische Hauptarbeit leistete und aus mehreren Abteilungen bestand. Die von Prof. Dr. Werner Heydte bzw. ab Dezember 41 von Prof. Dr. Hermann Paul Nitsche geleitete medizinische Abteilung kümmerte sich um die Erfassung der Opfer in den Anstalten mittels Meldebögen sowie um die Begutachtung von Meldebogen und Opfern durch die Gutachter.
Gemeinsam mit der von Gerhard Bohne geleiteten Büroabteilung trat sie mit dem Briefkopf Reichsarbeitsgemeinschaft Heil- und Pflegeanstalten (RAG) auf. Die unter der Leitung von Reinhold Vorberg stehende Transportabteilung, offiziell GEKRAT (Gemeinnützige Kranken Transport GmbH) genannt, organisierte die Transportmittel in die Tötungsanstalten. Eine Hauptwirtschaftsabteilung besorgte Finanzen, Besoldung, Gebäude, Tötungsmittel etc. und verwertete Schmuck und Zahngold der Getöteten.
Gemeinsam mit der Personalabteilung agierte sie als Gemeinnützige Stiftung für Anstaltspflege und fungierte als Arbeitgeber für die 300-400 Angestellten. Schließlich hatte eine Inspektionsabteilung, später Zentralverrechnungsstelle Heil- und Pflegeanstalten, Verhandlungen und Abrechnungen mit Behörden, Parteistellen, Kostenträgern durchzuführen. Der Zentraldienststelle unterstanden die sechs Tötungsanstalten, wobei nur Hartheim und Sonnenstein während der gesamten Aktion T4 1940/41 in Betrieb waren.
Dem jeweiligen ärztlichen Leiter der Anstalt oblagen die Selektion der antransportierten Kranken, die Tötung mittels Gas und die Festlegung der Todesursache. Standesamt und Büroabteilung führten vor allem Sterbebeurkundung und Angehörigenverständigung durch. Die Transportabteilung besorgte die Abholung der Kranken und die Wirtschaftsabteilung kümmerte sich um die Beschaffung der erforderlichen Materialien.
Im Deutschen Reich begann die Euthanasieaktion24 mit einem vom Staatssekretär und Reichsärzteführer Dr. Leonardo Conti unterzeichneten Runderlass des RMdI an die Heil- und Pflegeanstalten vom 9.10.1939. Ohne Erläuterung der Hintergründe wurden die Anstaltsleitungen verpflichtet, in Frage kommende Patienten zu melden.
Meldebogen I betraf die Personen, während Meldebogen II detaillierte Angaben über Größe, Bausystem, Betten, Kranke, Personal, Träger usw. einforderte. Da im Runderlass von der „Notwendigkeit planwirtschaftlicher Erfassung der Heil- und Pflegeanstalten“ die Rede war, wurde der Erfassungsaktion in den Anstalten vorerst wenig Beachtung geschenkt.
Die im Reichsministerium des Inneren eingereichten Meldebogen wurden durch Sonderkurier sofort in die medizinische Abteilung der Zentraldienststelle gebracht und dort bearbeitet. Kopien der Meldebögen wurden jeweils an 3 „Gutachter“ weitergeleitet, die an Hand der Meldebögen ihre „Begutachtung“ durchführten und mit simplen + oder – über Leben und Tod der betroffenen Menschen entschieden.
Bis zu 500 bearbeitete Meldebögen wurden mit RM 100, bis zu 2000 Meldebögen bis zu RM 200 und über 3500 Meldebögen mit RM 400 entlohnt. Als sich Verzögerungen und Verweigerungen in den Anstalten bemerkbar machten, entsandte die Zentraldienststelle Ärztekommissionen, die im Auftrag des RMdI in den Anstalten selbst die „Begutachtungen“ durchführten.
Wichtigstes Kriterium für das Überleben der Patienten war die Brauchbarkeit und Arbeitsfähigkeit in der Anstalt. Insgesamt wurden zur „Begutachtung“ über 40 Gutachter zur „Begutachtung“ der weit mehr als 100. 000 Anstaltspatienten eingesetzt, die in weniger als zwei Jahren rund 70. 000 Menschen zur Tötung aussortierten.
Nach der Rücksendung der „begutachteten“ Meldebogen wurden diese noch einem „Obergutachter“, als solcher fungierte Linden, später Heyde und Nitsche, zur endgültigen Entscheidung vorgelegt.
Die mit einem + versehenen Meldebogen wurden schließlich von der Zentraldienststelle an den Leiter der Gekrat, Reinhold Vorberg weitergeleitet, der die Verlegungslisten für die Tötungsanstalten zusammenstellen ließ.
Täuschung der Betroffenen, Geheimhaltung und Tarnung waren Spezifika der Euthanasieaktionen. Es ging darum, das massenhafte Sterben der verlegten Patienten am selben Tag und am selben Ort zu verschleiern bzw. natürliche Todesursachen für die Morde anzugeben.
Systematisch verfälschte man Todesart, -tag und -ort in den Sterbedokumenten bzw. in den Auskünften an Angehörige oder Behörden. In den 6 Mordanstalten wurden zu diesem Zweck eigene Standesämter errichtet, die den Tod beurkundenden Ärzte bedienten sich falscher Namen. Die Verständigungsschreiben an Hinterbliebene („Trostschreiben“) bzw. die standesamtlichen Sterbeurkunden wurden in einem ausgeklügelten System jeweils von einer anderen Anstalt versandt. Auch die Einrichtung von „Zwischenanstalten“ wie Niedernhart für Hartheim, wo Deportierte zwecks optimaler Ausnützung der Tötungskapazitäten einige Zeit „zwischengelagert“ wurden, diente der Verschleierung.
Am 24.8.41 befahl Hitler auf mündlichem Wege die Einstellung der Aktion T 4. Nach Götz Aly war die planmäßige Erreichung des Zieles der Freimachung von 70.000 Betten erreicht. Andere Forscher führen die Einstellung auf den Widerstand der Kirchen sowie die Unruhe in der Bevölkerung als Gründe an.
Der T4-Apparat aber blieb erhalten, auch die Tötungsanstalt Hartheim. Die Kindereuthanasie wurde bis 1945 weitergeführt, in den Euthanasietötungsanstalten vergaste das T4 Personal Häftlinge aus den KZ (Aktion 14f13) und in den Heil- und Pflegeanstalten wurde dezentral weitergemordet.
Die Aktion T4 wurde in organisatorischer, personeller und technologischer Hinsicht zu einer wichtigen Vorstufe für den Holocaust. Nach Einstellung der T4-Aktion erfolgte eine Versetzung eines Teiles des Personals der Tötungsanstalten zu der von dem Kärntner Nazi Odilo Globocnik geleiteten „Aktion Reinhardt“, der Ermordung der Juden im Generalgouvernement.
Der aus Österreich stammende Dr. Irmfried Eberl brachte es zum Direktor der Euthanasieanstalten Brandenburg/Havel und Bernburg/Saale zum ersten Kommandanten des Vernichtungslager Treblinka und wurde dort später von einem effizienteren Täter, dem vormals in Hartheim tätigen Oberösterreicher Franz Stangl abgelöst.
Tötungsmethoden und -system, insbesondere die Anwendung von Giftgas, die Errichtung stationärer Gaskammern und die Deportationstransporte in einige wenige Vernichtungsstätten wurden in modifizierter Weise übernommen.
Schließlich hatte der systematische Massenmord an Menschen, die nach NS- Auffassung zwar „minderwertig“ waren, aber zum „deutschen Volk“ und zur „arischen Rasse“ gehörten, allenfalls noch vorhandene moralische oder psychologische Barrieren auf dem Weg zum Genozid an den als „fremdvölkisch“ und „fremdrassig“ qualifizierten Juden und Roma aus dem Weg geräumt.
Die „Euthanasie“, der arbeitsteilig organisierte staatliche Massenmord an geistig und körperlich behinderten Menschen, war der Beginn des Zivilisationsbruchs (Dan Diner), des Absturzes der modernen, zivilisierten Gesellschaft, dessen Wahrnehmung zur universellen Durchsetzung der Menschenrechte nach 1945 entscheidend beigetragen hatte.25
Die Organisation der „Euthanasie“-Morde erfolgt gleichermaßen auf drei Ebenen: der zentralen des Reiches, der mittleren der Länder und vor Ort in Grafeneck.
Von der „T4“-Zentrale in Berlin erhalten die Büroabteilungen der Tötungsanstalten (insgesamt 6: Grafeneck bei Reutlingen, Brandenburg an der Havel, Bernburg an der Saale, Hadamar in Nordhessen, Sonnenstein bei Pirna, Hartheim bei Linz) die begutachteten Meldebögen. Von den Innenministerien der Länder, in diesem Fall Bayern, gehen die Verlegungsanordnungen in die Anstalten, im Fall von Karoline Weikhart nach Kaufbeuren, sie dienen als deren Verhandlungs- und Ansprechpartner. Von Grafeneck fahren die drei Busse der Gemeinnützigen Kranken Transport GmbH in die Anstalten.
Die von der Reichspost stammenden, ursprünglich roten, später grauen Busse werden mit Milchglasscheiben versehen. Durch eine Kabinenwand abgetrennt werden sie von einem Fahrer und Beifahrer gesteuert. Außerdem begleiten Pflegepersonen die Transporte, die den Kranken Beruhigungsspritzen geben, sie aber auch an besondere Vorrichtungen festschnallen oder gar in Handschellen legen können. In einem PKW vorneweg fährt der Transportleiter, der die Liste mit sich führt, nach welcher die Personen in der Abgabeanstalt ausgesucht werden. Auf dem Rückweg hat er auch die Krankenakten bei sich.26
Jeder ankommende Transport wird ohne Rücksicht auf die Tageszeit sofort untersucht und die zur Euthanasie bestimmten Menschen sofort vergast. Die Kranken werden in ein Aufnahmezimmer geführt. Die Transportleiter Schwenninger und Seibl übergeben die Krankengeschichten dem Büropersonal. An Hand dieser Unterlagen wird die Prüfung der einzelnen Personalien vorgenommen. Danach gelangen die Kranken in einen anderen Raum, wo sie zur Entkleidung kommen. Schließlich führt man die Patienten den Ärzten zur letzten Untersuchung vor. In manchen Fällen werden Beruhigungsspritzen gegeben, in den weitaus meisten Fällen dauert die Untersuchung nur wenige Sekunden bis zu einer Minute. In Grafeneck nehmen die die Ärzte Dr. Schumann, Dr. Henseke und ab April 1940 Dr. Baumhardt vor. Sie dient in der Regel aber nicht dem Zweck der nochmaligen Überprüfung des Krankheitszustandes, sondern sie wird dazu benutzt, die sachliche und personelle Richtigkeit der vorgestellten Kranken zu überprüfen und auffallende Kennzeichen zu notieren, die für die Erstellung der späteren Todesursache von Bedeutung sein kann.
Dann geht es durch ein Tor im Bretterzaun, vorbei am Krematorium zum Tötungsgebäude. Die Ermordung erfolgt durch Kohlenmonoxyd-Gas, das der Anstaltsarzt durch Bedienen eines Manometers in den Vergasungsraum einströmen lässt.
Beim Betreten des Vergasungsraumes werden die Kranken, maximal 75 Personen, nochmals gezählt, sodann die Tore geschlossen. Einige Opfer scheinen geglaubt zu haben, es gehe tatsächlich zum Duschen, andere beginnen sich im letzten Augenblick zu wehren und schreien laut. Die Zufuhr des Gases beträgt in der Regel 20 Minuten, sie wird eingestellt, wenn sich im Vergasungsraum keine Bewegung mehr feststellen lässt. Das Personal, das die Krematoriumsöfen bedient, manchmal auch „Brenner“ oder „Desinfektoren“ genannt, ist auch zuständig für den Abtransport der Leichen zum Verbrennungsort.27
Die Täter von Grafeneck finden sich in den Vernichtungszentren des Holocaust wieder. Dr. Horst Schuhmann (1906-1983), der erste Leiter und ärztliche Direktor von Grafeneck, war ab Herbst 1942 Lagerarzt in Auschwitz und selektiert an der Rampe von Birkenau Menschen für grausame, oftmals tödliche Röntgensterilisationsversuche.28 . Dr. Christian Wirth (1885-1944), bis 1939 Kriminalkommissar in Stuttgart, steigt zum Inspekteur aller sechs Vernichtungsanstalten der Aktion T4, zum Polizeimajor und SS-Sturmbannführer auf.29 Dann wirkt er an der „Endlösung“ der Judenfrage, der Ermordung der europäischen Juden mit. Im Rahmen der „Aktion Reinhardt“ leitet Wirth den Aufbau des Vernichtungslagers Belzec, wird später dessen erster Kommandant und ab 1. August 1942 zum Inspekteur der Vernichtungslager Belzec, Treblinka und Sobibor ernannt. Dort sind nach heutigem Wissensstand 1,75 Millionen Menschen ermordet worden.30
Wir wollen an Karoline Weikhart mit dieser Biografie und einem Stolperstein (verlegt am 14.9.2022) erinnern.
© Dr. Bernhard Lehmann, Gegen Vergessen-Für Demokratie, RAG Augsburg-Schwaben; 86368 Gersthofen, Haydnstr. 53, alle Rechte beim Autor
2021
Initiativkreis Stolpersteine für Augsburg und Umgebung
(https://stolpersteine-augsburg.de/)
– Foto: Stolperstein
https://www.bundesarchiv.de/DE/Content/Downloads/Aus-unserer-Arbeit/liste-patientenakten-euthanasie.pdf?__blob=publicationFile, S. 383 von 408
Götz Aly (Hg.), Aktion T4: 1939–1945. Die „Euthanasie“-Zentrale in der Tiergartenstraße 4, 2. Auflage, Berlin 1989.
Götz Aly, Die Belasteten >Euthanasie< 1939-1945. Eine Gesellschaftsgeschichte, Frankfurt 2013.
Michael Burleigh (Hg.), Tod und Erlösung. Euthanasie in Deutschland 1900–1945, Zürich 2002.
Michael von Cranach/Petra Schweizer-Martinschek, Die NS-„Euthanasie“ in der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren-Irsee, in: Stefan Dieter (Hg.), Kaufbeuren unterm Hakenkreuz, Kaufbeurer Schriftenreihe Band 14, Thalhofen 2015, S. 270-287.
Brigitte Kepplinger, Gerhard Marckhgott, Hartmut Reese (Hg.), Tötungsanstalt Hartheim, 2. Auflage, Linz, 2008.
Ernst Klee (Hg.), Dokumente zur „Euthanasie“, Frankfurt/Main 1985.
Ulrich Pötzl, Sozialpsychologie, Erbbiologie und Lebensvernichtung. Valentin Faltlhauser, Direktor der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren-Irsee in der Zeit des Nationalsozialismus, München 1995.
Dietmar Schulze, Auch der „Gnadentod“ ist Mord. Der Augsburger Strafprozess über die NS-„Euthanasie“-Verbrechen in Kaufbeuren und Irsee, Irsee 2019.
Thomas Stöckle, Grafeneck 1940. Die „Euthanasie“-Verbrechen in Südwestdeutschland, Tübingen, 3. Auflage 2012.