Gersthofen
Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren
Tötungsanstalt Grafeneck
Johann Nepomuk Karl wird am 4. März 1870 in Tännesberg in der Oberpfalz geboren.1 Er ist der Sohn des Schusters und Marktdieners Michael Karl und dessen Ehefrau Anna.2 Am folgenden Tag wird er getauft.
Als Johann 18 Jahre alt ist, stirbt sein Vater Michael mit 59 Jahren an „Wassersucht“, ausgerechnet am 2. Weihnachtsfeiertag 1888.3 Karls Mutter Anna stirbt am 27. Oktober 1923 im Alter von 77 Jahren.4
Johann hat zwei ältere Brüder. Der erstgeborene Wolfgang stirbt nach wenigen Wochen im Juni 18685 , der zweitgeborene, wiederum Wolfgang getauft, ist am 13. März 1869 geboren.6 Dieser verstirbt am 4.7.1949 in Tännesberg.7 Johann Nepomuk hat noch weitere 15 (!) jüngere Geschwister, der letztgeborene Andreas ist definitiv aus der zweiten Ehe seiner Mutter.8 Neun seiner jüngeren Geschwister versterben nach wenigen Wochen bzw. Monaten.9
Wohlhabend waren die Eltern mit Sicherheit nicht und können für ihre Kinder auch keine adäquate Ausbildung gewährleisten. Diese verlassen früh das Elternhaus und gehen auf Arbeitssuche.
Irgendwann verschlägt es Johann Karl nach Schwaben. Er wird Fabrikarbeiter in Gersthofen bei der Firma Hoechst AG10 und ist in Gersthofen wohnhaft. Es sind weder im Archiv der Hoechst AG noch im Stadtarchiv Gersthofen Unterlagen über ihn vorhanden.11 So wissen wir weder das Datum seines Zuzugs, noch kennen wir seinen Wohnort in Gersthofen. Es ist jedoch bekannt, dass er katholisch ist und ledig bleibt.
Im Alter von 64 Jahren wird Johann Karl durch den Beschluss des Bezirksamtes Augsburg Nr. 7186 polizeilich in die Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren eingewiesen. Es ist anzunehmen, dass er zuvor psychotisch erkrankt war. Angehörige in Gersthofen sind nicht vorhanden, also wird sein Bruder in Tännesberg von seiner Einweisung in Kaufbeuren verständigt.12
Am 10. August 1934 wird Johann Karl in der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren mit der Patientennummer 10147 registriert.13 Der Landesfürsorgeverband Schwaben Augsburg übernimmt für ihn die Kosten der Verpflegungsklasse II.14 Wir kennen weder Art noch Umfang seiner Erkrankung.
Da sich im Historischen Archiv des Bezirkskrankenhauses Kaufbeuren nur eine Karteikarte, nicht aber seine Patienten- und Verwaltungsakte erhalten haben15 , ist nicht bekannt, wann Johann Karl von der aufnehmenden Hauptanstalt Kaufbeuren in die Zweigstelle Irsee verlegt wurde.
Sicher ist jedoch, dass Johann Karl sechs Jahre später, er ist mittlerweile 70 Jahre alt, am 5. September 1940 von der Zweigstelle Irsee aus „verlegt“16 wird. Gemeinsam mit weiteren 56 Patienten aus Irsee (und 18 aus Kaufbeuren) wird er in die Tötungsanstalt Grafeneck verbracht und dort – vermutlich noch am gleichen Tag – ermordet. Johann Karl ist damit ein Opfer der „Euthanasie“-Aktion T4.
Der „Selektion lebensunwürdigen Lebens“ im Rahmen der Aktion T417 gehen umfangreiche Planungen voraus. Am 9.10.1939 werden vom Leiter der Abteilung IV des RMdI, Leonardo Conti, die in Frage kommenden Heil- und Pflegeanstalten zur Benennung bestimmter Patienten mittels Meldebögen aufgefordert.18 In einem beigefügten Merkblatt sind folgende Kriterien angegeben:
Schizophrenie, Epilepsie, Encephalitis, Schwachsinn, Paralyse, Chorea Huntington, Menschen mit seniler Demenz oder anderen neurologischen Endzuständen, wenn sie nicht oder nur noch mit mechanischen Arbeiten beschäftigt werden können.
Menschen, die schon länger als fünf Jahre in der Anstalt sind.
Kriminelle „Geisteskranke“.
Menschen, die nicht die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen oder nicht artverwandten Blutes sind19
.
Die Meldebögen werden über den zuständigen Referenten Herbert Linden im RMdI an die T4-Zentrale weitergeleitet. Drei „Gutachter“ entscheiden aufgrund der Meldebögen, also nicht aufgrund eigener Untersuchungen über Tod oder Weiterleben der Patienten.20
Wir müssen davon ausgehen, dass dem Kaufbeurer Anstaltsleiter Dr. Valentin Faltlhauser seit dem Frühjahr 1940 von Berlin Listen mit den Namen der Patienten zugesandt werden, welche die Gutachter der Aktion T421 in Berlin für „lebensunwürdig“ halten und welche dementsprechend in eine Reichsanstalt überwiesen werden sollen.22 Andererseits ist Dr. Valentin Faltlhauser seit September 1940 selbst Gutachter. Vielleicht hat er seit dieser Zeit selber Listen angefertigt, weil er ja die Patienten vor Ort besser kennt als die Gutachter in Berlin, die vom Schreibtisch aus ihre Todesurteile fällen. Zumindest wird er ab Juni 1940 auf den Listen, die aus Berlin kommen, Veränderungen bzw. Ergänzungen vorgenommen haben.23 . Als Gutachter der Aktion T4 ist Faltlhauser auch „Mitglied einer Kommission, die in unzuverlässigen Anstalten die zur Tötung bestimmten Patienten vor Ort auswählte“ 24
Wer auch immer entschieden hat, für Johann Karl bedeutet die „Verlegung“ das Todesurteil, denn die Intention ist stets die Ermordung25 der Patienten. Nur in wenigen Ausnahmen kommen Patienten zurück in die Heil- und Pflegeanstalten.26
Gemeinsam mit Johann Karl werden am 5. September 1940 weitere 74 Personen von Kaufbeuren aus nach Grafeneck deportiert und dort ermordet, darunter die folgenden Augsburger Bürger: Johann Anholzer, geb. 3.12.1879; Dr. Rudolf Aurnhammer, geb. 28.1.1866; Nikolas Baur, geb. 18.11.1900; Wilhelm Bissinger, geb. 21.11.1888; Johann Blank, geb. 13.12.1885, Martin Büchs, geb. 29.10.1913, Franz Christa, geb. 2.11.1919; Johann Christl, geb. 7.12.1891; Johann Falter, geb. 28.10.1865; Otto Fürst, geb. 22.8.1908; Anton Ganzenmüller, geb. 16.10.1894; Michael Gaugigl, geb. 25.8.1891; Otto Hafenmaier, geb. 3.7.1884; Franz Xaver Hartl, geb. 13.8.1882; Balthasar Heinrich, geb. 9.12.1884; Leonhard Joas, geb. 1.10.1904; Ferdinand Kain, geb. 16.3.1905; Josef Kollmann, geb. 21.8.1893; Emil Klöpfer, geb. 30.10.1876; Josef August Lutz, geb. 24.10.1894; Emil Maas, geb. 14.1.1904; Karl Mannhardt, geb. 5.8.1904; Ruppert Morhart, geb. 25.4.1914; Franz Robl, geb. 6.10.1904; Franz Rossmann, geb. 30.11.1896; Oskar Schwarz, geb. 12.12.1881; Adolf Stempfle, geb. 28.3.1895.27
Wir wollen mit dieser Biografie und einem Stolperstein an Johann Karl erinnern.
Biografie erstellt von: © Dr. Bernhard Lehmann, StD. i.R., Gegen Vergessen – Für Demokratie RAG Augsburg-Schwaben; 86368 Gersthofen, Haydnstr. 53
2020
Bistum Regensburg, Bischöfliches Zentralarchiv
Auskunft vom 23.7.2019
Historisches Archiv des Bezirkskrankenhaus Kaufbeuren (Hist. Arch. BKH Kaufbeuren)
Standbücher zu den Zu- und Abgängen Männer 1940
Aktennr. 10147 Karl Johann
Stadtarchiv Gersthofen (StadtAGerst)
Mitteilung des Stadtarchivars Herrn Kleinle, vom 21.12.2018
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