Augsburg, Bleichstraße 8 (ab 27.11.1918)
Augsburg, Wörthstraße 2/II (15.3.23)
Augsburg, Schertlinstraße 48 6/II (Zeppelinhof) (26.5.25)
Augsburg, Lechhauser Straße 12 (3.12.36 bis 23.7.39)
Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren
KZ Dachau 9.6.44-24.8.44
KZ Flossenbürg 24.8.44-15.2.45
Tod am 15.2.1945 im KZ Flossenbürg
Johann ist der Sohn von Johann Baptist und Theresia Pschierer, geb. Bayer, die beide aus Augsburg stammen.1 . Über seine schulische Laufbahn und Ausbildung liegen uns keine Unterlagen vor.
Nach der Rückkehr aus dem I. Weltkrieg Ende November 1918 wohnt Johann Baptist bei seinen Eltern in der Bleichstraße 8, ab Mitte März 1923 in der Wörthstraße 2, ab Juni gemeinsam mit seiner Ehefrau Maria. Von Ende Mai 1925 sind beide in der Schertlinstraße 48 6/II (Zeppelinhof) zumindest bis 1934 nachweisbar.2
Am 23. Juni 1923 heiratet er Maria Barbara Simnacher3 aus Augsburg.4 Johann Baptist ist städtischer Beamter, die Adressbücher führen ihn als Amtsoffiziant und Kanzleiassistent.5 Berufliche Ängste plagen ihn also nicht, auch die Hyperinflation von 1923 trifft die Familie nicht so hart wie freiberuflich tätige Menschen.
Aber es kommen andere schwere Belastungen. Im Alter von 36 Jahren muss er wegen progressiver Paralyse6 in die Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren. Dort verbleibt er von April bis Oktober 1932.7
Ein knappes Jahr später, am 2. Februar 1933, wird Johann „wegen Geistesschwäche unter Pflegschaft gestellt“8 und zur Beobachtung für einige Tage vom 9. bis 12. Februar 1933 in Kaufbeuren eingewiesen. Gleichzeitig wird vom Amtsgericht Augsburg ein Entmündigungsverfahren gegen ihn eingeleitet9 , das am 15. Mai 1935 zu seiner Entmündigung wegen Geisteskrankheit führt.10 . Einen Monat später, am 27. Juni 1935 wird Johann erneut in Kaufbeuren eingewiesen, wo er bis zum 19. November 1936 verbleibt.11
Seine Ehefrau verlässt ihn und zieht Anfang Mitte Mai 1936 nach Hof.12 Als Johann Baptist Pschierer aus Kaufbeuren zurückkehrt, kommt er in einer Wohnung in der Lechhauser Straße 12 unter.13 Künftig ist er auf sich alleine gestellt. Wir wissen nicht, ob sich jemand seiner annimmt, wie er in seinem Alltag klarkommt. Vom Dienst ist er freigestellt, er ist Pensionär, allerdings mit geringen Ansprüchen.
Drei Jahre später verordnet die 3. Strafkammer des Amtsgerichtes Augsburg am 19.12.1939 gemäß § 242, 51 und § 42b des Strafgesetzbuches die zwangsweise Unterbringung14 , u.a. wegen Diebstahls15 , in der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren, wo Johann bereits seit dem 23. Juli untergebracht ist.
Am 9. August 1944 wird Johann auf Anordnung der Staatsanwaltschaft Augsburg zur „polizeilichen Sicherungsverwahrung“ von der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren ins KZ Dachau eingewiesen16 und als Häftling Nr. 91202 registriert. Im KZ Dachau muss er das folgende Formular unterschreiben, das den ganzen Zynismus des NS-Terrors offenlegt:
„Zur Wahrung einer Anwartschaft aus der Rentenversicherung sind in meinem Falle keinerlei Maßnahmen seitens der Verwaltung des KZ Dachau erforderlich. Meine Sozialversicherungsangelegenheiten werden von meinen Angehörigen oder nach meiner Entlassung von mir selbst geregelt werden.
Gez. Hans Pschierer, 10.8.1944"17
15 Tage später wird Johann Baptist Martin Pschierer ins KZ Flossenbürg (Kreis Neustadt an der Waldnaab) „verschubt“.18 Er hat die Häftlingsnummer 20211.
Die SS als Profiteur der Häftlingszwangsarbeit ließ in Flossenbürg Granit abbauen19 Das KZ war im Mai 1938 gegründet worden. Im Steinbruch der Deutschen Erd- und Steinwerke (DESt) arbeiteten die Häftlinge ohne Sicherheitsvorkehrungen. Die Häftlinge mussten bei jedem Wetter Erde abtragen, Granitblöcke absprengen, Loren schieben und Steine schleppen. Unfälle waren an der Tagesordnung. Kälte, harte Arbeit, völlige unzureichende Ernährung und willkürliche Gewaltanwendung von SS-Männern und Kapos führten zum Tod vieler Häftlinge.20
Gemäß einer Vereinbarung des Reichsjustizministers Otto Georg Thierack mit dem Reichsminister des Inneren, Heinrich Himmler vom 18. September 1942 können Häftlinge mit langen Haftstrafen oder Sicherungsverwahrung zur „Vernichtung durch Arbeit“ nach Auschwitz geschickt werden:
„Auslieferung asozialer Elemente aus dem Strafvollzug an den Reichsführer SS zur Vernichtung durch Arbeit. Es werden restlos ausgeliefert die Sicherungsverwahrten, Juden, Zigeuner, Russen und Ukrainer, Polen über 3 Jahre Strafe, Tschechen oder Deutsche über 8 Jahre Strafe nach Entscheidung des Reichsjustizministers…“21
Im KZ Flossenbürg verstirbt Johann Baptist Martin Pschierer am 15.2.194522 an Lues, wie die Sterbeurkunde Nr. 2366 des Standesamts Augsburg behauptet. Der Tod von Johann Pschierer war von langer Hand am grünen Tisch geplant worden. Rückfällige Straftäter und – wie im Falle von Johann Baptist Pschierer – geistig beeinträchtigte Personen sollten durch Arbeit im KZ vernichtet werden.
Wir wissen nicht, wo Johann Pschierer begraben ist.
Am 1. Dezember 1957 stellt die Witwe Maria Barbara Pschierer beim Landesamt für Wiedergutmachung in München, Arcisstraße einen Antrag auf Entschädigung für entgangene Freiheit und Verlust des Lebens. Lange wird sie von den Behörden hingehalten, ihre Briefe werden trotz mehrfacher Anfrage nicht beantwortet, schließlich mit dem Verweis auf fehlende Belege immer wieder zurückverwiesen. Dank ihrer Zähigkeit gelingt ihr in einem langen und zermürbenden Schriftverkehr, dass ihr Antrag zugelassen wird, obwohl, wie die Behörden behaupten, die Antragsfrist laut BEG vom 29.6.1956 bereits am 31.3.1858 abgelaufen sei.23
Am 6. Februar wird der Antrag der Witwe endlich registriert und statistisch erfasst.24 Trotzdem bleiben ihre wiederholten Anfragen immer wieder unbeantwortet. Das Landesentschädigungsamt holt Erkundigungen bei der Stadt Augsburg, bei der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren und bei der Staatsanwaltschaft und beim Landgericht Augsburg ein, Johann Baptist Pschierer betreffend.
Am 12. Dezember erhält Maria Barbara Pschierer, die mittlerweile bei ihrem Bruder in Memmingen wohnt, den Bescheid, dass ihr Antrag auf Entschädigung zurückgewiesen werde:
„Nach den hier vorliegenden Unterlagen wurde für den Verstorbenen durch Beschluss der 3. Strafkammer des Landgerichts Augsburg vom 19.12.1939 nach § 42b des Strafgesetzbuches die erneute Einweisung in die Heil- und Pflegeanstalt nach Kaufbeuren angeordnet, weil er wiederholt aus nichtpolitischen Gründen straffällig geworden war. Am 9.8.1944 wurde er auf Anordnung der Oberstaatsanwaltschaft zum Zwecke der polizeilichen Sicherungsverwahrung in das Konzentrationslager Flossenbürg überwiesen, wo er am 15.2.1945 verstarb. Aus diesem Sachverhalt und den die Person des Verstorbenen betreffenden Unterlagen kann geschlossen werden, dass dieser nicht aus Gründen der politischen Gegnerschaft gegen den Nationalsozialismus verfolgt und inhaftiert wurde und dass seine Einweisung in das Konzentrationslager Flossenbürg auf Grund einer aus nichtpolitischen Gründen gerichtlich angeordneten Sicherungsverwahrung erfolgt ist. Das Vorliegen der Voraussetzungen des § 1 Abs. 1 BEG kann daher nicht als gegeben angesehen werden. Der Anspruch auf Entschädigung ist deshalb unbegründet.“25
Verzweifelt stellt die Witwe daraufhin am 18.11.1960 einen Antrag auf Härteausgleich mit der Begründung, ihr Mann sei Opfer der sog. „Euthanasie“ geworden. Am 8. Dezember antwortet ihr Regierungsrat Scholian von der Bayerischen Landesentschädigungsanstalt, es gebe keinerlei Beweise, dass ihr Mann Opfer der Euthanasie geworden sei, ihr Mann habe an progressiver Paralyse gelitten, er sei entmündigt und vier Mal in die Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren eingewiesen worden. „Nach pflichtgemäßem Ermessen“ des Bayerischen Landesentschädigungsamts „ist es daher nicht möglich, eine Leistung aus dem Härteausgleich zu gewähren, der diesbezügliche Antrag muss aus vorstehenden Gründen abgelehnt werden“26
Erst am 13. Februar 2020 wurden die berechtigten Ansprüche der Opfer sozialrassistischer Verfolgung vom Deutschen Bundestag allgemein anerkannt.27 Jetzt endlich können die bisher ignorierten Opfergruppen einen Platz in der Erinnerungskultur erhalten.
Durch das 75-jährige Zuwarten ist allerdings die Situation eingetreten, dass kaum noch eine Person lebt, die als Opfer in den Genuss einer materiellen Entschädigung kommen kann.28 Seit 1988 wurden gerade einmal 330 Entschädigungsanträge von Angehörigen dieser Opfergruppe eingereicht. Die Scham und Stigmatisierung dieser Opfergruppe war auch in der Nachkriegszeit geschichtswirksam. Nun soll Aufklärung und Forschung zum Thema der sog. „Asozialen“ und „Berufsverbrecher“ intensiviert und Anerkennung für enormes Leid in die Tat umgesetzt werden. Zudem soll eine Wanderausstellung in Gedenkstätten gezeigt werden.
"Niemand saß zurecht im KZ", sagt die Sozialdemokratin und Mitglied des Bundestags, Marianne Schieder mit großem Nachdruck.29
Die Anerkennung der „Asozialen“ und „Berufsverbrecher“ als NS-Opfer, ihre volle Rehabilitierung, ist ein emphatisches Bekenntnis zu den Prinzipien des Rechtsstaates. Als solches kann und sollte sie auch öffentlich und in der Bildungsarbeit vermittelt werden, denn „Verbrechen, auch begangen an Verbrechern, sind Verbrechen!“30
Wir wollen an diesen Mann mit einer Biografie und einem Stolperstein erinnern.
© Biografie erstellt von StD Dr. Bernhard Lehmann, Gegen Vergessen – Für Demokratie Augsburg-Schwaben
2022
Bayerisches Hauptstaatsarchiv (BayHStA)
Landesentschädigungsamt (LEA):
– Nr. 29061 Johann Baptist Pschierer
Geodatenamt Augsburg
– Auskunft von Annette Mayer am 9.11.2020
ITS Bad Arolsen
– 1.1.6.2/10255396
– 1.1.6.1/9949408 und 1.1.8.1/10797747
– 1.1.8.3/1097935, individuelle Unterlagen Flossenbürg
Stadtarchiv Augsburg (StadtAA)
Meldekartei (MK):
– Johann Pschierer
– Bernhard Simnacher
Stadtarchiv Hof (StadtAHof)
– Auskunft Dr. Arnd Kluge vom 10.11.2020
https://www.gedenkstaette-flossenbuerg.de/de/geschichte/flossenbuerg
https://www.karger.com/Article/Pdf/228956
https://www.spdfraktion.de/themen/ns-opfer-anerkennung-so-genannte-asoziale-berufsverbrecher
Nikolaus Wachsmann, Hitler’s Prisons. Legal Terror in Nazi Germany, New Haven/London 2004.