Augsburg, Stadtbachquartier
Das Gelände lag hinter der heutigen Papierfabrik UPM-Kymmene und wurde eingeebnet. Ersatzweise gilt heute die Reischlestraße 28-33 als letzter Wohnort.
Zuchthaus Landsberg
KZ Dachau
KZ Buchenwald
KZ Natzweiler
KZ Mittelbau/Dora
Im Zug ist es bitter kalt. Es ist Nacht. Nebel. Feine Wassertröpfchen sind auf der Kleidung der Menschen zu sehen, die eng aneinander gekauert auf dem Boden des Waggons sitzen. So transportiert man gewöhnlich keine Menschen. Der Viehwaggon ist offen. Ihre Mützen haben sie für die Notdurft verwendet. Sie wollten den Waggon möglichst lange sauber halten. Wie bei einem Viehtransport üblich, haben die Bewacher auch Begleitpapiere dabei. „RU“ steht darauf. „Rückkehr unerwünscht“. Das werden die Häftlinge, die aus dem Konzentrationslager Buchenwald kommen, aber erst später erfahren. Der Zug steht lange in der Dunkelheit. Die Menschen werden ungeduldig. Fritz und Josef rechnen mit dem Schlimmsten. Sie warten auf das Kommando. Sie warten auf das Öffnen der Schiebetüren und rechnen damit, erschossen zu werden. Hier in der Wildnis. Nichts wäre einfacher gewesen. Aber sie hören Schritte. Keine Befehle. Es ist ungewöhnlich ruhig. Es klopft. Durch einen Spalt sind vier Menschen zu erkennen, die aussehen, als wären sie Bauern. Es sind Franzosen, die in gebrochenem Deutsch und sehr leise Fragen stellen. Wer seid ihr? Wo kommt ihr her? Kennt ihr euer Ziel? Ja, ihr Ziel können sie benennen: Frankreich, Natzweiler. „Wir sind 400“.
Um diese Zeit hatte Wernher von Braun schon seine ersten Raketen entwickelt. Später wird man ihn den „Vater der Mondfahrt“ nennen. V2 heißt einer seiner Raketen. Als „Wunderwaffe“ soll Wernher von Brauns Rakete den Nazis endgültig zum Sieg verhelfen. Von Braun wird zum Täter, ist Mitglied der NSDAP und der SS und gehört zum höchsten militärischen Führungsstab des Naziregimes. Von Hitler persönlich wird er zum Professor ernannt. 8000 Menschen sterben später in Antwerpen und London durch seine Terrorwaffe. Viel mehr Menschen sollten jedoch bei der Produktion dieser Raketen sterben. Aber dafür ist es noch etwas Zeit und Fritz Pröll, auf dem Weg ins KZ Natzweiler, weiß noch nicht, welch leidvolle Erfahrungen ihn einmal mit diesen Raketen in Zusammenhang bringen würden.
„Rothau“ heißt der Bahnhof, in dem die Häftlinge ankommen. Völlig erschöpft, frierend werden sie in offene Lastwagen gestoßen. Die Fahrt geht bergauf. Bauern am Straßenrand grüßen die Häftlinge mit erhobener Faust. Natzweiler liegt 700 Meter hoch. Eigentlich eine wunderschöne Landschaft am Nordhang eines Vogesengipfels. Zwischen Mai 1941 und November 1944 werden dort 52.000 Menschen aus ganz Europa gefangen gehalten. Etwa 22.000 Menschen überleben das KZ nicht. Eigentlich sollen auch die 400 deutschen Häftlinge hier umgebracht werden. Aber die SS hat nicht mit der französischen Widerstandsorganisation gerechnet. Gerade mal zwei Tage sind die Häftlinge im KZ, als viele Päckchen ankommen. In den Päckchen sind Zigaretten und Schokolade. Absender: „Internationales Rotes Kreuz“. Die Adressen lauten auf die Vor- und Nachnamen der deutschen Häftlinge und sind sogar mit ihren Heimatadressen versehen. Das löst Verwirrung unter der Lagerleitung aus. Die Aktion rettet den Menschen das Leben, denn die Lagerleitung wird vorsichtig.
Fritz und Josef Pröll erkennen den Lagerkommandanten von Natzweiler: Josef Kramer aus Augsburg. Massenmörder. Ein speziell gebautes Röhrensystem leitet die Hitze aus der Leichenverbrennung im Krematorium zu seiner Villa und erwärmt das Wasser seines Schwimmbades. Kramer wurde im KZ Dachau ausgebildet und war in Augsburg, der Geburtsstadt von Fritz und Josef, ein bekannter Nazi.
Fritz verliebt sich in eine junge Frau. „Noch nie habe ich Fritz so glücklich gesehen“, sagt später sein Bruder Josef in einem Interview. Liebe im KZ. Platonisch. Glück in einer brutalen, unmenschlichen Welt. Solidarität und unbeschreiblicher Mut, der eine als Kommunist, der andere als Mitglied der Roten Hilfe. Schon andere Weltanschauungen waren für die Nazis ein Verbrechen. Das hat die Brüder Pröll ins KZ gebracht. Beiden ist klar, dass sie nicht aufgeben würden. Widerstand in den Konzentrationslagern. Jeden Tag den eigenen Tod vor Augen. Leben retten und der Ausbau der Widerstandsbewegung. Und jetzt für Fritz eine neue Erfahrung. Mit 19 Jahren wurde er verhaftet. Liebe im KZ – das heißt, miteinander Blicke tauschen. Ein paar Worte sind manchmal möglich. Josef hatte Angst um seinen Bruder.
Schwerste Arbeiten im Steinbruch. Die junge Frau ist plötzlich verschwunden. Fritz sucht vergeblich nach ihr. Sie war Jüdin und mit einem Transport von Auschwitz gekommen. Heute kennt man die Geschichte genauer: Die Reichsuniversität Straßburg wollte eine Skelettsammlung anlegen. Prof. August Hirt wollte im Zuge der „Rassentheorien“ die „Minderwertigkeit von Jüdinnen und Juden nachweisen“. Sie wurde mit weiteren 86 Menschen vergast. Die Körperteile der Menschen fand man bei der Befreiung des KZ Natzweiler. Sie waren konserviert. Fritz Pröll glaubte fest daran, dass sie „nur“ auf Transport gegangen sei. Er träumte bis zum Schluss von einem Wiedersehen.
Es ist der 14. Dezember 1943, als Fritz zusammen mit seinem Bruder Josef wieder auf Transport geht. Josef in das KZ Buchenwald. Fritz in das teilweise unterirdische KZ Mittelbau-Dora. Wernher von Braun hat seine Raketenproduktion dorthin verlegt, nachdem Peenemünde bombardiert worden war. In kurzer Zeit sterben dort 20.000 Menschen, die unter schlimmsten Bedingungen in den Stollen des Kohnsteins die V-Raketen produzieren. Der „Vater der Mondfahrt“ sucht sich seine Häftlinge persönlich im KZ Buchenwald aus. Fritz wird im Krankenrevier ein wichtiges Glied in der internationalen Widerstandsorganisation. Ein Spitzel verrät sie. Alle werden gefoltert. Fritz hat Angst, der Folter nicht Stand halten zu können. Er weiß zu viel. Um andere nicht zu verraten, nimmt er sich am 22. November 1944 das Leben. Er ist 29 Jahre alt. Vorher erfährt er noch vom Tod seiner geliebten Mutter, die bei einem Bombenangriff in Augsburg ums Leben gekommen ist.
Sein Abschiedsbrief ist an seine Geschwister gerichtet, sein Vater war schon sehr früh gestorben:
„Meine Lieben! Zu Beginn meiner schwersten Stunde empfangt meinen geschwisterlichen Gruß. Ruhig und zufrieden, frei von jeder Furcht vor dem Tode, habe ich mich entschlossen zu sterben. Mein letzter Wunsch: Pflegt das Grab meiner unvergesslichen Mutti und seid alle umarmt und tausendmal geküßt; ich war treu und tapfer bis in den Tod.*
Lebt wohl! ... Euer Fritz"
Gerade mal 19 Jahre alt, war Fritz in Augsburg verhaftet worden. Die Rote Hilfe sammelte Geld für Familien, deren Angehörige ins KZ verschleppt wurden. Bei der Übergabe von fünf Reichsmark wird er geschnappt. Er erhält die längstmögliche Jugendstrafe: Drei Jahre Einzelhaft im Zuchthaus Landsberg. Die Familie holt Fritz in Landsberg ab. Er ist völlig ausgehungert. Sie feiern das Wiedersehen in der elterlichen Wohnung in Augsburg. Doch das Glück währt nur kurz. Schon einen Tag später stand die Augsburger Gestapo an der Tür. Als „Wiederholungstäter“ nehmen sie Fritz mit ins KZ Dachau. Strafkompanie. Dann die Deportation nach Mittelbau-Dora – und das Ende seines jungen Lebens.
Zehn Jahre dauerte sein Leidensweg.
Seine Familie musste unter dem Nationalsozialismus, wie viele tausende Andere, extrem leiden. Seine Brüder Josef Pröll und Alois Pröll schlossen sich 1932 der KPD an und waren ebenfalls in verschiedenen Konzentrationslagern. Alle drei waren Metallarbeiter und kamen aus einem äußerst christlichen Elternhaus. Ihr Vater war bereits im Alter von 27 Jahren gestorben. Die Prölls mussten ab 1933 viele Hausdurchsuchungen über sich ergehen lassen. Die Mutter, Maria Pröll, musste die sieben Kinder alleine aufziehen. Sie kam beim Bombenangriff in Augsburg ums Leben. Alois Pröll verstarb kurz nach seiner Entlassung aus dem KZ Dachau an den Folgen einer „Gestapo-Sonderbehandlung“.
Verfasst von Josef Friedrich Pröll (2. Generation)
Online 2017
Archiv Arolsen
Archiv Gedenkstätte Buchenwald
Archiv Gedenkstätte Dachau
Archiv Gedenkstätte Mittelbau-Dora
Archiv Gedenkstätte Natzweiler-Struthof
Foto Stolperstein:
https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_der_Stolpersteine_in_Augsburg#/media/Datei:Stolperstein_Augsburg_Proell_Fritz.jpg
Gernot Römer, Es gibt immer zwei Möglichkeiten … Mitkämpfer, Mitläufer und Gegner Hitlers am Beispiel Schwabens, Augsburg 2000.