Eustachius Pentenrieder

Geboren:
18.09.1880, Breitbronn LK Starnberg
Gestorben:
30.06.1944, Kaufbeuren

Wohnorte

Breitbrunn
Augsburg, Wiesenstraße 4
Augsburg, Lindenstraße 17
Augsburg, Weidachstraße 7

Letzter freiwilliger Wohnort

Orte der Verfolgung

Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren

Erinnerungszeichen

Für Eustachius Pentenrieder wurde am 14. September 2022 vor der Weidachstraße 7 ein Stolperstein verlegt.

Biografie

Eustachius Pentenrieder, röm.kath., geb. 18.9.1880 in Breitbronn LK Starnberg,
wohnhaft Augsburg, Weidachstr. 7,
verstorben am 30. Juni 1944 in der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren,
Opfer der sog. „dezentralen Euthanasie“**

Eustachius Pentenrieder1 ist am 18. September 1880 in Breitbrunn im Landkreis Starnberg geboren. Er ist der Sohn des Tagelöhners Michael und Agathe Pentenrieder, geb. Unvergessen, die gemeinsam in Breitbrunn einen Bauernhof betreiben.2

Eustachius erlernt den Schreinerberuf und wohnt ab 1905 in Augsburg.3 Die Adressbücher lokalisieren ihn 1913 in der Wiesenstraße 4, 1926 in der Lindenstraße 17, 1931 in der Weidachstraße 74 , wo er auch sein Schreinergeschäft mit einigen Gesellen betreibt. Er ist mit 1,52 m relativ klein, hat eine kräftige Muskulatur und graues, gelichtetes Haar.

Aus seiner 1909 geschlossenen ersten Ehe5 mit der Cannstätterin Selma, geb. Hartner6 hat er die Tochter Selma (geb. 15.5.1908) und die Söhne Karl Ernst (geb. 18.7.1911) und Ernst (geb. 27.2.1921).7 Die Ehe wird vom Landgericht Augsburg am 23. Januar 1930 rechtskräftig geschieden, „aus Verschulden der Ehefrau wegen Geisteskrankheit“.8 Selma Pentenrieder befindet sich seit dem 1. April 1927 in Kaufbeuren, im Dezember 1927 kommt sie nach Neuendettelsau in die Fürsorge der Diakonissinnen.9

Am 8. November 1930 heiratet Eustachius die Witwe Viktoria Kerl, geb. Hartl.10 Über die nächsten 12 Jahre hinweg haben wir keine Unterlagen, die Auskunft über ihn und seine Familie geben könnten.

Ab 1942 ist Eustachius, mittlerweile 62 Jahre alt, bettlägerig, er hat Gicht und ein geschwollenes Bein. Er ist bereits Rentner, als er am 7. Juni 1944 ins Städtische Krankenhaus Augsburg auf Station C1 eingewiesen wird. Nach kurzer Beobachtung diagnostizieren die Ärzte progressive Paralyse.11 Eustachius sei aber nicht „erbkrank“.

Einweisung in Kaufbeuren

Nach zwei Tagen wird er in die Heil- und Pflegeanstalt nach Kaufbeuren überwiesen.12 Seine Schwestern bringen ihn dorthin. Der Leiter der AOK Augsburg, Schmid verweigert die Übernahme der Krankenhilfekosten, denn Rentner hätten keinen Anspruch auf Heilanstaltspflege.13 Das Wohlfahrtsamt der „Gauhauptstadt Augsburg“ genehmigt die Kostenübernahme für den 3-wöchigen Aufenthalt von Eustach Pentenrieder in Kaufbeuren erst nach seinem Ableben.14

Stellungnahme des Augsburger Wohlfahrtsamts zur Kostenübernahme, 25.7.1944. (Historisches Archiv des Bezirkskrankenhaus Kaufbeuren)

In Kaufbeuren zeigt er sich nach den Aufzeichnungen der Ärzte zeitlich und örtlich orientiert, verweigert aber jegliche Nahrungsaufnahme. Eustach sei hochgradig pflegebedürftig, leide an progressiver Paralyse plus Tabes15 , er sei gelähmt. Offensichtlich hat er zudem eine Art Größenwahn. Er zeigt sich mürrisch und gereizt und neigt zu Übertreibungen. Hin und wieder habe das Pflegepersonal Probleme mit dem Patienten. Ansonsten liege er ruhig im Bett und nehme von den Vorgängen keinerlei Notiz.16

Bereits nach 11 Tagen sprechen die Ärzte von einem langsamen körperlichen Rückgang. Nach wie vor verweigere er die Nahrungsaufnahme, sodass man ihn füttern und jeden Löffel einzeln „hineinzwingen“ müsse. Eustach äußere Ideen, die von Größenwahn geprägt seien, wenn er mit den Pflegern über seine Verhältnisse spreche.

Ab dem 19. Juni 1944 nimmt Eustachius keinerlei Nahrung mehr zu sich. Seine Stimmung bleibt mürrisch und ablehnend. Auf Fragen gibt er keine Antwort mehr und liegt nach Angaben des Pflegepersonals unbeweglich im Bett.

Am 30. Juni 1944 notiert der Arzt im Patientenbeobachtungsbogen, er sei in der Agonie und morgens um 5 Uhr verstorben. Bei seinem Tod wiegt Eustach Pentenrieder noch ganze 38,5 kg.17

Das Telegramm an seine Familie in der Weidachstraße 7 lautet lapidar: „Pentenrieder Eustachius verstorben. Beerdigung 3.7.44 um 13 Uhr in Kaufbeuren. Anstalt Kaufbeuren.“

Der Leichenschauschein von Eustachius Pentenrieder dokumentiert:
Verstorben am 30.6.44 um 5 Uhr 10 Min. Krankheit: Progressive Paralyse und Tabes.18 Todesursache: Marasmus bei progressiver Paralyse gez. Dr. Ottmann19 .

Eustachius Pentenrieder war nicht mehr arbeitsfähig und in hohem Maße pflegebedürftig.20 Er hatte die für die progressive Paralyse typischen Wahnideen. Für das Pflegepersonal war er sprichwörtlich ein „unbequemer“ Patient.

Vernachlässigung, Überdosis von Luminal und Entzugskost führen zum Tod

30. Juni 1944: Dr. Ottmann unterzeichnet den Leichenschauschein. (Historisches Archiv des Bezirkskrankenhaus Kaufbeuren)

Wir müssen annehmen, dass die Ärzte bzw. das Pflegepersonal den Patienten regelmäßig sedierten und durch Nichtbehandlung vernachlässigten. Beim Tod von Eustachius Pentenrieder haben sie zudem mit der Beigabe von Luminal erheblich „nachgeholfen“.21 Das geringe Gewicht von Eustachius Pentenrieder legt außerdem die Vermutung nahe, dass in seinem Fall auch die Entzugskost zur Anwendung kam.22 Meist trat der Tod bei diesem Krankheitsbild mit einer hinzukommenden Pneumonie ein. Manche Patienten, geschwächt durch Hungerkost und über lange Zeit ans Bett fixiert, erkrankten an Tuberkulose oder an Durchfallerkrankungen, ohne dass ein Behandlungsversuch zu verzeichnen gewesen wäre.
Für Eustachius Pentenrieder wurde ein Stolperstein verlegt.

© Kurzbiografie erstellt von Dr. Bernhard Lehmann, Gegen Vergessen – Für Demokratie, RAG Augsburg-Schwaben, 86368 Gersthofen, Haydnstr. 53

Fußnoten
  1. StadtAA, MK Eustachius Pentenrieder.
  2. Hist. Archiv BKH Kaufbeuren, Patientennr. 14400, Eustach Pentenrieder. Die Eltern sind in Inning Kreis Starnberg verstorben.
  3. Hist. Archiv BKH Kaufbeuren, Patientennr. 14400, Eustach Pentenrieder. Angaben von Eustach Pentenrieder im Städtischen Krankenhaus Augsburg bei der Anamnese.
  4. Adressbuch bzw. Einwohnerbuch der Stadt Augsburg, 1913, 1926, 1931, http://wiki-de.genealogy.net/Kategorie:Adressbuch_f%C3%BCr_Augsburg .
  5. StadtAA, MB Eustachius Pentenrieder und StadtAA, MK 2 Eustachius Pentenrieder sowie StadtAA, MK Selma Pentenrieder geb. Hartner.
  6. StadtAA, MB Eustachius Pentenrieder. Selma Hartner ist am 7. Juni 1888 in Bad Cannstatt geboren.
  7. StadtAA, MB Eustachius Pentenrieder. Der erste Sohn Eustachius, geb. 1910 verstirbt 1917, die jüngste Tochter Erna, geb. 1922 stirbt 10 Tage nach ihrer Geburt.
  8. StadtAA, MK Pentenrieder Eustachius. Selma und Eustachius hatten am 12.9.1909 geheiratet. Laut Selmas Meldekarte (StadtAA, MK) war auch sie als „geisteskrank“ registriert worden und ist 1927 nach „Kaufbeuren (Anstalt)“ gebracht worden.
  9. StadtAA, MK Pentenrieder Eustachius.
  10. Hist. Archiv BKH Kaufbeuren, Patientennr. 14400, Eustach Pentenrieder. Trauregister Nr. 1359; StadtAA, MK.
  11. https://www.pschyrembel.de/Progressive%20Paralyse/K0GAB; und https://www.neurologienetz.de/fachliches/erkrankungen/infektionskrankheiten/neurosyphilis/progressive-paralyse/. „Bei der Neurolues kommt es zu fortschreitenden Abbau von Nervengewebe (Degeneration, Atrophie) im Gehirn oder Rückenmark. Mögliche Folgen des Gewebsuntergangs im Gehirn sind Wesensveränderungen bis hin zur Demenz, Wahnideen (klassisch: ‚Größenwahn‘, d. h. Größenideen), mitunter Raptus-artige Anfälle und häufig Halluzinationen. Eine syphilitische Schädigung des Rückenmarks bewirkt oft Gangstörungen (Ataxie) und einschießende (sogenannte lanzierende) Schmerzen. Die Neurolues ist in den westlichen Industrienationen seit dem Aufkommen wirksamer Antibiotika selten geworden, da die meisten Syphilis-Erkrankungen bereits in früheren Stadien geheilt werden. In Entwicklungs- und Schwellenländern mit ungenügender Gesundheitsversorgung ist dieses Stadium häufiger anzutreffen“ (https://www.biologie-seite.de/Biologie/Neurolues).
  12. Hist. Archiv BKH Kaufbeuren, Patientennr. 14400, Eustach Pentenrieder.
  13. Ebenda, Schreiben der AOK an die Verwaltung der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren vom 16. Juni 1944.
  14. Ebenda. Der Oberbürgermeister der Gauhauptstadt Augsburg an die Verwaltung der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren 25.7.1944.
  15. Tabes ist eine veraltete Begrifflichkeit für den heutigen Befund von Rückenmarkschwindsucht.
  16. Hist. Archiv BKH Kaufbeuren, Patientennr. 14400, Eustach Pentenrieder. Patientenbeobachtungsbogen Juni 1944.
  17. Ebenda. Bei seiner Einlieferung in die Heil- und Pflegeanstalt betrug sein Gewicht noch 42,6 kg.
  18. Unter Tabes hat man (Rückenmarks)schwindsucht zu verstehen: https://flexikon.doccheck.com/de/Tabes . Sein Rückenmark war bereits infiziert, was durch Liquorbefund nachgewiesen werden konnte. Auskunft Historisches Archiv des BKH Kaufbeuren, Frau Dr. Schweizer-Martinschek und Prof. Dr. Michael von Cranach, 17.12.2020.
  19. Ebenda.
  20. Vgl. Michael von Cranach/Petra Schweizer-Martinschek/Petra Weber (Hg.), „Später wurde in der Familie darüber nicht gesprochen.“ Gedenkbuch für die Kaufbeurer Opfer der nationalsozialistischen „Euthanasie“- Verbrechen, Neustadt/Aisch, 2020, bes. S. 49ff: Die Ermittlung der Opfer der Nationalsozialistischen „Euthanasie“-Morde. Als „Selektionskriterien“ zählen die Verfasser folgende Kriterien auf: 1. Arbeits(un)fähigkeit, 2. Entwertende Eintragungen, wie z.B. stumpf, unruhig, jammert, schimpft, stört, 3. Fehlende Behandlung und plötzlicher Tod, 4. Gewichtslisten, 5. Vernachlässigung.
  21. Ebenda, S. 53.
  22. Auskunft Historisches Archiv des BKH Kaufbeuren, Frau Dr. Schweizer-Martinschek und Prof. Dr. Michael von Cranach, 17.12.2020.
Quellen- und Literaturverzeichnis
Unveröffentlichte Quellen:

Historisches Archiv des Bezirkskrankenhaus Kaufbeuren (Hist. Archiv BKH Kaufbeuren)
Patientennr. 14400, Eustach Pentenrieder

Stadtarchiv Augsburg (StadtAA)
Meldebogen (MB):
Eustachius Pentenrieder

Meldekartei (MK):
Eustachius Pentenrieder
Selma Pentenrieder geb. Hartner

Meldekartei II (MK II):
Eustachius Pentenrieder

Veröffentlichte Quellen:

Initiativkreis Stolpersteine für Augsburg und Umgebung
(https://stolpersteine-augsburg.de/)
– Foto: Stolperstein

Internet:
Literatur:

Wolfgang Ayaß, Die Verfolgung der Nichtseßhaften im Dritten Reich, in: Zentralvorstand Deutscher Arbeiterkolonien (Hg.), Ein Jahrhundert Arbeiterkolonien. „Arbeit statt Almosen“ – Hilfe für Obdachlose Wanderarme 1884-1984, Freiburg 1984.

Wolfgang Ayaß, Schwarze und grüne Winkel. Die nationalsozialistische Verfolgung von »Asozialen« und »Kriminellen« - ein Überblick über die Forschungsgeschichte, in: KZ-Gedenkstätte Neuengamme (Hg.), Ausgegrenzt. „Asoziale“ und „Kriminelle“ im nationalsozialistischen Lagersystem, Bremen 2009, S. 16-30.

Lothar Gruchmann, Justiz im Dritten Reich 1933-1940. Anpassung und Unterwerfung in der Ära Gürtner, München 1988.

Julia Hörath, „Asoziale“ und „Berufsverbrecher“ in den Konzentrationslagern 1933-1938, Göttingen 2017.

Christian Müller, Das Gewohnheitsverbrechergesetz vom 24. November 1933, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, Jg. 47, 1999, S. 965-979.

Astrid Ley, Vom Krankenmord zum Genozid. Die „Aktion 14f13“ in den Konzentrationslagern, in: Dachauer Hefte 25 (2009), S. 36–49.

Wolfgang Neugebauer, Die „Aktion T4“, in: Brigitte Kepplinger, Gerhart Marckhgott, Hartmut Reese (Hg.), Tötungsanstalt Hartheim, 2. Auflage, Linz 2008, S. 17-34.

Florian Schwanninger, „Wenn du nicht arbeiten kannst, schicken wir dich zum Vergasen.“ Die „Sonderbehandlung 14f13“ im Schloss Hartheim 1941–1944, in: Brigitte Kepplinger, Gerhart Marckhgott, Hartmut Reese (Hg.), Tötungsanstalt Hartheim, 2. Auflage, Linz 2008, S. 155-208.

Wissenschaftliche Dienste Deutscher Bundestag, „Asoziale im Nationalsozialismus“, Berlin 2016: https://dip21.bundestag.de/dip21/btd/19/089/1908955.pdf.
Michael von Cranach/Petra Schweizer-Martinschek, Die NS-„Euthanasie“ in der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren-Irsee, in: Stefan Dieter (Hrsg.): Kaufbeuren unterm Hakenkreuz, Kaufbeurer Schriftenreihe Band 14, Thalhofen 2015, S. 270-287.

Michael von Cranach/Petra Schweizer-Martinschek/Petra Weber (Hg.), „Später wurde in der Familie darüber nicht gesprochen.“ Gedenkbuch für die Kaufbeurer Opfer der nationalsozialistischen „Euthanasie“-Verbrechen, Neustadt/Aisch 2020.