Breitbrunn
Augsburg, Wiesenstraße 4
Augsburg, Lindenstraße 17
Augsburg, Weidachstraße 7
Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren
Eustachius Pentenrieder1 ist am 18. September 1880 in Breitbrunn im Landkreis Starnberg geboren. Er ist der Sohn des Tagelöhners Michael und Agathe Pentenrieder, geb. Unvergessen, die gemeinsam in Breitbrunn einen Bauernhof betreiben.2
Eustachius erlernt den Schreinerberuf und wohnt ab 1905 in Augsburg.3 Die Adressbücher lokalisieren ihn 1913 in der Wiesenstraße 4, 1926 in der Lindenstraße 17, 1931 in der Weidachstraße 74 , wo er auch sein Schreinergeschäft mit einigen Gesellen betreibt. Er ist mit 1,52 m relativ klein, hat eine kräftige Muskulatur und graues, gelichtetes Haar.
Aus seiner 1909 geschlossenen ersten Ehe5 mit der Cannstätterin Selma, geb. Hartner6 hat er die Tochter Selma (geb. 15.5.1908) und die Söhne Karl Ernst (geb. 18.7.1911) und Ernst (geb. 27.2.1921).7 Die Ehe wird vom Landgericht Augsburg am 23. Januar 1930 rechtskräftig geschieden, „aus Verschulden der Ehefrau wegen Geisteskrankheit“.8 Selma Pentenrieder befindet sich seit dem 1. April 1927 in Kaufbeuren, im Dezember 1927 kommt sie nach Neuendettelsau in die Fürsorge der Diakonissinnen.9
Am 8. November 1930 heiratet Eustachius die Witwe Viktoria Kerl, geb. Hartl.10 Über die nächsten 12 Jahre hinweg haben wir keine Unterlagen, die Auskunft über ihn und seine Familie geben könnten.
Ab 1942 ist Eustachius, mittlerweile 62 Jahre alt, bettlägerig, er hat Gicht und ein geschwollenes Bein. Er ist bereits Rentner, als er am 7. Juni 1944 ins Städtische Krankenhaus Augsburg auf Station C1 eingewiesen wird. Nach kurzer Beobachtung diagnostizieren die Ärzte progressive Paralyse.11 Eustachius sei aber nicht „erbkrank“.
Nach zwei Tagen wird er in die Heil- und Pflegeanstalt nach Kaufbeuren überwiesen.12 Seine Schwestern bringen ihn dorthin. Der Leiter der AOK Augsburg, Schmid verweigert die Übernahme der Krankenhilfekosten, denn Rentner hätten keinen Anspruch auf Heilanstaltspflege.13 Das Wohlfahrtsamt der „Gauhauptstadt Augsburg“ genehmigt die Kostenübernahme für den 3-wöchigen Aufenthalt von Eustach Pentenrieder in Kaufbeuren erst nach seinem Ableben.14
In Kaufbeuren zeigt er sich nach den Aufzeichnungen der Ärzte zeitlich und örtlich orientiert, verweigert aber jegliche Nahrungsaufnahme. Eustach sei hochgradig pflegebedürftig, leide an progressiver Paralyse plus Tabes15 , er sei gelähmt. Offensichtlich hat er zudem eine Art Größenwahn. Er zeigt sich mürrisch und gereizt und neigt zu Übertreibungen. Hin und wieder habe das Pflegepersonal Probleme mit dem Patienten. Ansonsten liege er ruhig im Bett und nehme von den Vorgängen keinerlei Notiz.16
Bereits nach 11 Tagen sprechen die Ärzte von einem langsamen körperlichen Rückgang. Nach wie vor verweigere er die Nahrungsaufnahme, sodass man ihn füttern und jeden Löffel einzeln „hineinzwingen“ müsse. Eustach äußere Ideen, die von Größenwahn geprägt seien, wenn er mit den Pflegern über seine Verhältnisse spreche.
Ab dem 19. Juni 1944 nimmt Eustachius keinerlei Nahrung mehr zu sich. Seine Stimmung bleibt mürrisch und ablehnend. Auf Fragen gibt er keine Antwort mehr und liegt nach Angaben des Pflegepersonals unbeweglich im Bett.
Am 30. Juni 1944 notiert der Arzt im Patientenbeobachtungsbogen, er sei in der Agonie und morgens um 5 Uhr verstorben. Bei seinem Tod wiegt Eustach Pentenrieder noch ganze 38,5 kg.17
Das Telegramm an seine Familie in der Weidachstraße 7 lautet lapidar: „Pentenrieder Eustachius verstorben. Beerdigung 3.7.44 um 13 Uhr in Kaufbeuren. Anstalt Kaufbeuren.“
Der Leichenschauschein von Eustachius Pentenrieder dokumentiert:
Verstorben am 30.6.44 um 5 Uhr 10 Min. Krankheit: Progressive Paralyse und Tabes.18
Todesursache: Marasmus bei progressiver Paralyse gez. Dr. Ottmann19
.
Eustachius Pentenrieder war nicht mehr arbeitsfähig und in hohem Maße pflegebedürftig.20 Er hatte die für die progressive Paralyse typischen Wahnideen. Für das Pflegepersonal war er sprichwörtlich ein „unbequemer“ Patient.
Wir müssen annehmen, dass die Ärzte bzw. das Pflegepersonal den Patienten regelmäßig sedierten und durch Nichtbehandlung vernachlässigten. Beim Tod von Eustachius Pentenrieder haben sie zudem mit der Beigabe von Luminal erheblich „nachgeholfen“.21
Das geringe Gewicht von Eustachius Pentenrieder legt außerdem die Vermutung nahe, dass in seinem Fall auch die Entzugskost zur Anwendung kam.22
Meist trat der Tod bei diesem Krankheitsbild mit einer hinzukommenden Pneumonie ein. Manche Patienten, geschwächt durch Hungerkost und über lange Zeit ans Bett fixiert, erkrankten an Tuberkulose oder an Durchfallerkrankungen, ohne dass ein Behandlungsversuch zu verzeichnen gewesen wäre.
Für Eustachius Pentenrieder wurde ein Stolperstein verlegt.
© Kurzbiografie erstellt von Dr. Bernhard Lehmann, Gegen Vergessen – Für Demokratie, RAG Augsburg-Schwaben, 86368 Gersthofen, Haydnstr. 53
2021
Historisches Archiv des Bezirkskrankenhaus Kaufbeuren (Hist. Archiv BKH Kaufbeuren)
Patientennr. 14400, Eustach Pentenrieder
Stadtarchiv Augsburg (StadtAA)
Meldebogen (MB):
Eustachius Pentenrieder
Meldekartei (MK):
Eustachius Pentenrieder
Selma Pentenrieder geb. Hartner
Meldekartei II (MK II):
Eustachius Pentenrieder
Initiativkreis Stolpersteine für Augsburg und Umgebung
(https://stolpersteine-augsburg.de/)
– Foto: Stolperstein
Wolfgang Ayaß, Die Verfolgung der Nichtseßhaften im Dritten Reich, in: Zentralvorstand Deutscher Arbeiterkolonien (Hg.), Ein Jahrhundert Arbeiterkolonien. „Arbeit statt Almosen“ – Hilfe für Obdachlose Wanderarme 1884-1984, Freiburg 1984.
Wolfgang Ayaß, Schwarze und grüne Winkel. Die nationalsozialistische Verfolgung von »Asozialen« und »Kriminellen« - ein Überblick über die Forschungsgeschichte, in: KZ-Gedenkstätte Neuengamme (Hg.), Ausgegrenzt. „Asoziale“ und „Kriminelle“ im nationalsozialistischen Lagersystem, Bremen 2009, S. 16-30.
Lothar Gruchmann, Justiz im Dritten Reich 1933-1940. Anpassung und Unterwerfung in der Ära Gürtner, München 1988.
Julia Hörath, „Asoziale“ und „Berufsverbrecher“ in den Konzentrationslagern 1933-1938, Göttingen 2017.
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Michael von Cranach/Petra Schweizer-Martinschek/Petra Weber (Hg.), „Später wurde in der Familie darüber nicht gesprochen.“ Gedenkbuch für die Kaufbeurer Opfer der nationalsozialistischen „Euthanasie“-Verbrechen, Neustadt/Aisch 2020.