Frankfurt/Main
Augsburg, Saarburgstraße 49 1/9 (heute Sommestraße 23)
Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren
Edmund Aull ist am 4. April 1915 in Rothenbuch, BA Lohr am Main geboren1 Sein Vater Anton ist Maschinist, seine Mutter Maria ist die Tochter der Metzgersleute Josef und Maria Fischer aus Achsheim.2 Maria ist am 18. Juli 1890 geboren und mit 6 Geschwistern aufgewachsen, ihre Eltern versterben früh.3
Edmund Aulls Vater Anton4 wächst bei seinem Stiefvater auf, er ist das ledige Kind seiner Mutter Gertrud, die 2 Jahre nach Antons Geburt verstirbt. Bereits in jungen Jahren werden Antons Knie, Unterschenkel und Lendenwirbel eingequetscht. Er liegt 8 Wochen im Koma. Seit seinem 13. Lebensjahr muss er hart arbeiten. Im I. Weltkrieg wird er schwer verwundet, wird verschüttet und erleidet einen Nervenzusammenbruch.5
Aber gemeinsam mit seiner Frau Maria bekommt Anton sein Leben in den Griff. Das Paar heiratet am 23. April 1912 in Frankfurt/Main, wo sie bis 1927 mit Unterbrechungen wohnen6 , dann zieht die Familie nach Augsburg. Ihrer Ehe entstammen mehrere Kinder: Rosa Aull, geb. 1913; Edmund, geb. 1915; Anna, geb. 1918; Viktoria, geb. 19197 ; Martha, geb. 1924; ein weiterer Sohn.8 Die Familie wohnt nun in der Saarburgstraße 49 1/9.9
Ihr Sohn Edmund ist hochintelligent, sehr kommunikativ und stellt hohe Ansprüche an sich selbst. Er hat eigentlich keinerlei Schrullen oder Eigentümlichkeiten. Edmund geht bis zur 8. Klasse ins Gymnasium St. Stephan, von wo wir die folgenden Abbildungen erhalten haben.
Aber im Frühjahr 1935, im Alter von 20 Jahren, tritt eine Veränderung ein. Er hat manische Vorstellungen, lehnt sich gegen die Vorgesetzten auf, verschleudert Geld in sinnlosen Einkäufen, wofür ein Bekannter gerade stehen muss. Edmund möchte einen Autohandel eröffnen und ein Grundstück kaufen und tritt in konkrete Verhandlungen. Gleichzeitig will er einen Schülerclub gründen.
Infolge seiner zunehmenden Unruhe und der Gefahr weiterer „sinnloser Handlungen“ weist ihn der Bezirksarzt in die psychiatrische Abteilung ins Städtische Krankenhaus Augsburg zur Beobachtung ein. Seine Eltern machen dort folgende Angaben: „Nie ernstlich krank gewesen. Im Frühjahr dieses Jahres ganz langsam einsetzend Krankheitsgefühl. Unlust zur Arbeit, zunehmende Gleichgültigkeit. Leistungsverminderung in der Schule, Insuffizienzgefühle, Depressionen ohne objektiven Grund. Nach mehrwöchentlichem Aufenthalt in Wörishofen gute Besserung, Rückkehr in die Schule.“ Psychiater Dr. Zaglmann diagnostiziert eine Schizophrenie.10
Dr. Zaglmann stellt fest, dass der Patient örtlich und zeitlich gut orientiert sei, aber sich motorisch unruhig verhalte. Er zeige einen starken Bewegungs- und Rededrang. Den ganzen Tag spreche Edmund auf seine Mitpatienten ein, deklamiere, pfeife und äußere sich über Vorgesetzte und Dinge seiner Umgebung mit großer Überheblichkeit. Verwundert stellt der Arzt fest, dass Edmund die Beobachtungszeit als „aparte Episode“ betrachte. Edmund halte sich für unwiderstehlich, er behauptet, dass er über jeden beliebigen Gegenstand Vorträge halten und jedes Schriftstück in fremde Sprachen übersetzen könne. Manchmal zeigt Edmund sich sehr gereizt, hält die Wärter für Ärzte und droht ihnen. Er schlägt an Türen, ist nicht mehr zu bändigen, muss isoliert und mit Pantopon, einem Opiat, beruhigt werden.
Mit Zustimmung der Eltern wird Edmund Aull am 2. Juli 1935 zum ersten Mal nach Kaufbeuren überführt und verbleibt bis 1. Dezember 1935 dort. Im Patientenbogen ist vermerkt: „Halluziniert, spricht Schriftdeutsch und gewählt. Meckert über Pfleger und Ärzte, weiß alles besser, ohne Einsicht in seine Krankheit. Hat Größenideen, erzählt unglaublichste Märchen, nimmt anderen Patienten Gegenstände weg“.
Die Ärzte und Pfleger wundern sich über den Patienten, der kaum jemand zu Wort kommen lässt und den Ärzten das Wort im Munde umdreht, was nicht gut ankommt.11 . Auf der Station benimmt er sich nach Ansicht der Ärzte ungezogen, manchmal provokativ gegenüber seinen Mitpatienten12 Am 20. Juli 1935 wird er vom Rektor von St. Stephan besucht, was von einer hohen Wertschätzung für ihn zeugt.
Am 13. November 1935 wird Edmund auf Antrag der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren zwangssterilisiert.13 Er ist gerade einmal 20 Jahre und 9 Monate alt. Am 1. Dezember darf Edmund im „gebesserten Zustand“ nach Hause zurückkehren. Er wird von der Außenfürsorge Kaufbeuren betreut und überwacht.14 In Augsburg geht er verschiedenen Berufen bei MAN und BFW nach, die er allesamt sehr schnell wieder beendet. Von Dr. Pfannmüller fordert er die Ausstellung eines Auslandspasses und eines Gutachtens, welches ihm Geistesgesundheit bescheinige.15
Am 23.10.1936 wird Edmund wegen seines auffälligen Verhaltens wieder in Kaufbeuren eingewiesen. Dr. Hermann Pfannmüller vom Gesundheitsamt Augsburg, später ein entschiedener Befürworter der Krankenmorde, notiert am 24.10.36 in seinem Gutachten:
„Aull …. leidet an Schizophrenie. Im derzeitigen Zustand bedeutet der … Geisteskranke eine Gefahr für die Umgebung und die öffentliche Ruhe und Sicherheit. Seine Einweisung nach Art. 80/II erscheint erforderlich. Ich habe Aull bereits gestern, da mir der Fall dringlich erschien, in die Heil-und Pflegeanstalt Kaufbeuren zurückverbringen lassen“.
Gez. Dr. Pfannmüller16
Im Nachhinein legitimiert die Stadt Augsburg die Maßnahme und ordnet an, ihn „für die Dauer der Allgemeingefährlichkeit zwangsweise in der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren zu verwahren.“17
Edmund wird 5 Monate später, am 26. März 1937, von seinem Vater abgeholt und wird in die Außenfürsorge entlassen. Er zeigt sich antriebslos und lethargisch.18
7 Monate später, am 26.10.1937 wird Edmund wiederum in Kaufbeuren eingewiesen, weil er einzelne Familienmitglieder bedroht. Die freiwillige Sanitätskolonne bringt ihn nach Kaufbeuren zurück.19 Diesmal bleibt er ein ganzes Jahr in Kaufbeuren. Auf die Ärzte und Pfleger macht er einen resignierten Eindruck, was wahrscheinlich auf die Cardiazolbehandlung und zahlreiche Injektionen zurückzuführen ist. Er ist in der Tütenkleberei beschäftigt. Am 23. Oktober 1938 wird er entlassen, die Eltern holen ihn ab.20
Edmunds Schwester Dora wird am 23.September 1941 in die Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren mit der Diagnose Schizophrenie eingeliefert.21 Bei dieser Gelegenheit berichtet seine Mutter den Ärzten in Kaufbeuren über den Zustand Edmunds. Edmund zeige immer noch das gleiche indifferente Benehmen. Er sitze untätig zu Hause herum, sei völlig antriebslos und nicht dazu zu bewegen, sich eine Arbeit zu suchen.22
Die letzte Einweisung Edmund Aulls ins BKH Kaufbeuren erfolgt am 30. Dezember 1943. Alle 3 Tage erhält Edmund nun eine Elektroschockbehandlung, und zwar bis zum 27. März 1944. Zudem wird er mit Morphium-Skopolaminspritzen ruhig gestellt. Weil er ein anstrengender und unangenehmer Patient ist, entscheiden sich die Ärzte Anfang 1944 dazu, ihn zu ermorden.
Kommt vom Städtischen Krankenhaus Augsburg. Ist an den Händen gefesselt. In lebhafter Unruhe, redet dauernd, leicht gehobener Stimmung, macht Witze, ist aber doch in seinem ganzen Gebaren recht fahrig und albern. Es handelt sich wohl um einen katatonen Erregungszustand. Geht in C 3 zu.
P. war bei der Aufnahme sehr frech, lebhaft und laut, legte sich auf den Boden und sprang im Saal umher. Wurde isoliert. Hat gesungen und geschrien. Für die Nacht erhält er 1,0 Morp. Scopl. Injektion, hat von 21-3 Uhr geschlafen, dann sehr lebhaft und laut. Ma
20.1.44 War heute Nacht sehr lebhaft, laut und störend, von ½ 12 Uhr ab
28.2.44 Elektroschockbehandlung vom 3.1.44-28.2.44
27.3.44 Elektroschockbehandlung, da wieder rückfällig geworden. Heute mit 6 Elektroschocker Kur beendet. Ma.
15.5.44 P. befindet sich dauernd in … Erregung. Man kann ihn unter den anderen Kranken kaum mehr haben, da er durch sein … Verhalten die anderen Kranken ärgert und in Erregung versetzt. Pat. geht auch körperlich stark zurück23
1.7.44 Dauernd in lebhafter Unruhe, muss für die Nacht Beruhigungsmittel erhalten. Keine Anhaltspunkte für eine Tuberkulose oder andere innere Erkrankung. Dabei trotz guter Nahrungsaufnahme ständiger Rückgang des Körpergewichts und des Allgemeinbefindens.
29.7.44 Obwohl in den letzten Tagen eine deutlich rasche Verschlechterung des Befindens eingetreten war, starb Pat. heute früh 5 Uhr ganz unerwartet, nachdem er am Abend vorher noch gegessen und sich mit dem Oberpfleger unterhalten hatte. O.
Der Totenschein konstatiert als Todesursache Hypostatische Pneumonie rechts, beginnende Pneumonie links. Gez. Ottmann24
Die Todesursache Edmund Aulls ist mit Sicherheit auf eine Überdosis von Medikamenten zurückzuführen. Zudem muss man bei einem Gewicht von 45 kg zum Todeszeitpunkt davon ausgehen, dass die Ärzte den Tod Edmund Aulls mit der sog. Entzugskost zusätzlich beschleunigt haben.25
Am 2. August 1944 wird Edmund Aull in Kaufbeuren eingeäschert und begraben. Die Mutter hat die Beerdigungskosten von RM 70 zu tragen.
Zugang 02.07.1935, Abgang 01.12.1935
Zugang 23.10.1936, Abgang 26.03.1937
Zugang 26.10.1937, Abgang 23.10.1938
Zugang: 30.12.1943, Verstorben in KF 30.07.1944, 5 Uhr
Gehirn 1505 g, makrosk. Äußerlich und auf dem Schnitt o.B.
Herz: 200 g, Muskelfest, Klappen o.B. Aorta zart
Lungen: nicht verwachsen. im re Unterlappen Konsistenz starkvermehrt herausgeschnittene Stückchen gehen unter, blaurote Verfärbung. Li im Unterlappen der gleiche Befund im Beginn, Schwimmprobe noch eben positiv. Gew.li. 240, re 340 gr
Leber 1080 gr, gestaut, sonst o.B. Gallenblase ohne Steine
Milz: 80 gr klein, trocken
Beide Nieren: ziemlich groß, Kapsel haftet nicht, Oberfläche glatt, Zeichnung von Mark und Rinde deutlich. Gew. li. 180 re 190 gr.
Magen-Darm, Blase o.B.
Todesursache: Hypostatische Pneumonie rechts, beginnende Pneumonie links. Gez. Ottmann.
Opferbiografie erstellt von Dr. Bernhard Lehmann, Gegen Vergessen-Für Demokratie Augsburg-Schwaben 86368 Gersthofen, Haydnstr. 53, Tel. 0821/497856
2020
Stadtarchiv Augsburg (StadtAA)
Meldebogen (MB)
– Anton Aull
– Edmund Aull
Historisches Archiv des Bezirkskrankenhaus Kaufbeuren (Hist. Archiv BKH Kaufbeuren)
– Patientenbogen Edmund Aull, Nr. 9197
Initiativkreis Stolpersteine für Augsburg und Umgebung
(https://stolpersteine-augsburg.de/)
– Foto: Stolperstein
Michael von Cranach/Petra Schweizer-Martinschek, Die NS-„Euthanasie“ in der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren-Irsee, in: Stefan Dieter (Hg.), Kaufbeuren unterm Hakenkreuz, Kaufbeurer Schriftenreihe Band 14, Thalhofen 2015, S. 270-287.